Emil am Fliegen
Schnelle Schnitte und eine Aufmerksamkeitsspanne von wenigen Sekunden – das bin ich mir gewohnt. Im Normalfall muss jedes zweite Hundertstel um seine Existenz fürchten. Kann ich überhaupt noch anders … schneiden? Filmen? Kreieren?
Oberflächlich gesehen ist dieses Video für alle, die sich gerne ein Musikvideo von einem jungen, talentierten Pianospieler ansehen wollen. Jedoch, verborgen unter all den Noten und Saiten, steckt ein Selbstexperiment. Meine Arbeit als Social Media Video Creator – vor allem für Kurzvideos auf TikTok – hat ihre Spuren hinterlassen. Kaum eine Lufthol-Pause ist vor meinen schnellen Fingern sicher. Und ehrlich: es deprimiert mich. Ich muss mich davon überzeugen, dass ich auch anders kann.
Also tippte ich mit meinen Fingern eine WhatsApp-Nachricht an Emil, einem unheimlich begabten Pianospieler, von dem ich schon als Sechsjährige erste Stücke hören durfte. Mir war es wichtig, dass er sich nicht als Fremdkörper fühlte. Schlussendlich soll es ebenso ein Video für ihn sein, nicht nur für mein Selbstexperiment. Von Anfang an habe ich ihn integriert und um seine Meinung gebeten. Das Musikstück «Danzas Argentinas Op. 2: Nr. II Danza del moza donosa» vom argentinischen Komponisten Alberto Ginastera stammt aus seinem momentanen Programm. Den Kontakt zu Emil verdanke ich meinem jüngeren Bruder Jonny, den ich gleich mit ins Boot holte. Er ist begeisterter Drohnenflieger. Kombiniert man Emils, Jonnys und meine Faszinationen, entsteht (im besten Fall) ein Musikvideo am Flügel mit einer fliegenden Drohne – und boom, der Titel war geboren: «Emil am Fliegen».
Die erste Visualisierung (damals mit leicht anderem Titel).
Neben einem Musikvideo und einem Selbstexperiment wurde das Projekt zur Familienangelegenheit. Damit es auch als wertvoller Digezz-Beitrag eingeht, hier einige Gedanken, die mir geholfen haben:
Augen zu, Musik ab, Kamera an
Ich frage mich, wie es meinem Spotify Agent geht. Er/sie muss sich Sorgen machen, wieso ich an einem Mittwoch um 22.13 Uhr einen Abstecher in argentinische Pianomusik mache – und zwar mit demselben Lied 23 Mal. Die Töne tanzten herum. Mal schneller, mal langsamer. Mal aggressiv, dann wieder lieblich. Ich versuchte, sie zu verstehen und einzuordnen. Bei geschlossenen Augen stellte ich mir vor, wie man ihre Stimmung visuell einfangen könnte. Daraufhin schrieb ich einen groben Drehplan mit den gewünschten Perspektiven und eine Shotlist. Dabei habe ich mich an Timecodes der Spotify-Aufnahme orientiert. Was ich damals noch nicht wusste: Jede*r Pianist*in spielt auf ihre eigene Weise. Das bedeutet, dass genaue Timecodes keinen Wert haben.
Am Drehtag wurde zuerst die Tonaufnahme recorded. Dafür verwendete Emil seine private Installation zur professionellen Aufzeichnung. Jonny und ich durften zurücklehnen und die Klänge geniessen. War das abgehakt, gingen wir mit Drohnen und Kamera ans Werk. Damit ich mich in der Postproduktion besser orientieren kann, habe ich einen handlichen Audiorecorder organisiert. Diesen positionierte ich in der Nähe des Klaviers. Jede neu gestartete Aufnahme beginnt mit einem Klatsch und kurzer Beschreibung der Klappe. Die Klappe war ausserordentlich modern und sah eher aus wie mein iPad. Meine moderne Klappe wurde zu Beginn der Aufnahme ebenso in die Kamera gezeigt.
Zum Thema Timecodes: Jeder Durchgang war unterschiedlich lang – klar, Emil ist kein Roboter (oder?) – auch wenn nur ein zwei Sekunden. Angekommen in der Postproduktion matchte ich zuerst die Tonaufnahmen des Audiorecorders mit den Videos. Zur ersten Orientierung war mein Drehplan die perfekte Stütze. So konnte ich eine gewisse Übersicht über den ganzen musikalischen Haufen erlangen.
Somit hat das Selbstexperiment seinen letzten Step erreicht. Meine vergangenen Videos jaulen vor Eifersucht, dass hier kein Hundertstel gestorben ist. Oder findest du eine, die nicht mehr unter uns ist?
(eli)
Mit dem Musikvideo a.k.a. Selbstexperiment a.k.a. Familienangelegenheit a.k.a. (hoffentlich) guten Digezz-Beitrag bin ich zufrieden. Es ist mein erster grosser Dreh, den ich von der Konzeption bis zum finalen Feinschnitt komplett selbst organisiert und durchgeführt habe (abgesehen von den Drohnenshots von Jonny). Vor allem bin ich stolz darauf, dass ich von Anfang über meine Grenzen Bescheid wusste und diese bestens berechnet habe.
Leider war ich spät dran mit Equipment reservieren. Vieles war bereits nicht mehr verfügbar. Für diese Umstände konnte ich mich trotzdem gut adaptieren. Anstatt einem Gimbal musste ich mit einem Rollstativ arbeiten. Leider liess sich das nicht beliebig in der Höhe verstellen. Ausserdem holperte die Aufnahme bei einem Richtungswechsel, wenn sich die Rollen neu ausrichten mussten. Warp Stabilizer und die Videostabilisierung von CapCut wurden zu meinen besten Freunden. Einiges musste ich direkt aus der Hand filmen. In der Postproduktion waren viele Aufnahmen nicht zu gebrauchen. Das war zwar schade, aber man kann’s auch so sehen: so hatte ich weniger schwierige Entscheidungen zu treffen, da die Auswahl sowieso klein war. In einer wunderschönen Sequenz, die ich unbedingt benutzen wollte, liess sich nichts gegen das Wanken tun. Ich habe sie trotzdem drinnen gelassen – ich empfinde es als Stilbruch. Ohne Wackeln wäre es objektiv gesehen schöner, aber ich finde es perfekt so.
Also, ich hatte nicht alle Zeit der Welt. Ich hätte gerne früher begonnen mit dem Drehplan. Ausserdem hätte ich gerne mehr Fluglinien mit der Drohne ausprobiert. Aus (sehr sehr vorsichtigen) Sicherheitsgründen waren einige Shots nicht möglich und sie wurden abgebrochen. Als Regisseurin ein Heartbreak. So fielen einige eingeplanten Shots weg. “I hoff, du hesch gnuag Shots för d’Postproduktion”, sagte Jonny noch zu mir. Ich versicherte ihm, dass das kein Problem wird – obwohl ich wusste, dass er mit seinen Bedenken Recht hatte. In der Postproduktion wurde es tatsächlich eng. Das hatte jedoch auch einen anderen Grund. Mir war vor dem Projekt nicht bewusst, dass es sehr wohl erkennbar ist, was der Pianist spielt – auch wenn die Tasten nicht zu sehen sind. Ein allegro-Teil sieht anders aus als ein G-Dur. Viele Shots, die ich als “B-Roll” verwenden wollte, wurden schnell degradiert.
Meine Sorge, dass sich Kamera- und Drohnenshots nicht in einem Video vereinen lassen, weil sie derartig andere Qualitäten haben, ist begründet. Dennoch finde ich, dass es entsprechend passt. Auch wenn ich mit Color Grading mein Bestes gegeben habe – es lässt zu wünschen übrig. Color Grading ist mein grösster Feind. Man denkt, man ist fertig und BAM! Umso mehr man überarbeitet, desto schlechter wirkt es (so zumindest meine Auffassung davon) und es braucht so viel Zeit. Schlussendlich konnte ich mich mit der Hilfe von Kolleg*innen für eine Version entscheiden.
Letztes Learning: Auch Drohnen haben ND-Filter!