overstimulated

Für hochsensible Menschen können Alltagssituationen in der Öffentlichkeit zum Albtraum werden. Ich habe mich an die auditive Umsetzung einer solchen Situation gewagt – entstanden ist eine fünfminütige Zugfahrt, die du so schnell nicht vergessen wirst.

In den letzten Jahren ist das Thema Hochsensibilität zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt – heute geht man davon aus, dass ca. 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung als hochsensibel eingestuft werden können. Erkenntnissen zufolge dürfte die Zahl jedoch noch höher sein. Hochsensible Menschen nehmen ihre Umwelt auf allen Ebenen mit allen Sinnen verstärkt wahr. Und das kann, je nach Ausprägung, Betroffene in ihrem Alltag stark einschränken.

Für «normalsensible» Aussenstehende ist dieses Phänomen oft schwer nachzuvollziehen. Ich habe mich mit meinem iPhone in den Zug gesetzt und in der Postproduction eine Zugfahrt nachgestellt, welche Nicht-Betroffenen in nur fünf Minuten auditiv näherbringt, wie sich ein sogenannter «überstimulierter» Zustand anfühlen kann. Kleine Vorwarnung: Diese Darstellung ist bei weitem nicht repräsentativ und steht in keinster Weise stellvertretend für eine solche Situation aller Betroffenen. In diesem Projekt wird eine (noch) schwächere Ausprägung demonstriert, als sie in den meisten Fällen eigentlich anzutreffen ist. Das Video dient lediglich der Veranschaulichung und Awareness dieser Thematik.

Tipp: Am besten trägst du für dieses Video Kopfhörer, setzt die Lautstärke auf mind. 50% und schliesst deine Augen.

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(mou)

Projektidee:
Mein Projekt war eine typische Digezz-Idee. Plötzlich war sie da – und sie musste umgesetzt werden. Und zwar so schnell wie möglich. Ich selber reagiere auch sehr intensiv auf Sinneseindrücke und an manchen Tagen überfordert mich jedes kleinste Geräusch oder auch jeder unangenehme Geruch. Ich weiss, dass es vielen Menschen ähnlich ergeht, manchen davon in einem viel schlimmeren Ausmass. Ich kann mich also noch glücklich schätzen. Doch wenn ich dieses Phänomen einer aussenstehenden Person schildern möchte, scheitere ich meistens. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, eine alltägliche Situation als Beispiel zu nehmen und diese zu vertonen. In den meisten Fällen kommen auch noch olfaktorische und visuelle Faktoren dazu, aber das hätte den Rahmen gesprengt resp. wäre mit olfaktorischen Ausprägungen als Digezz-Projekt gar nicht möglich gewesen. Sinn meines Projekts ist es, sich für fünf Minuten mit geschlossenen Augen in eine hochsensible Person zu versetzen und deren Welt auf dieselbe Art und Weise zu erleben.

Planung/Umsetzung:
Ohne grosse Planung stürzte ich mich also in dieses Projekt. Ich hatte eine klare Vorstellung davon, wie das Projekt aussehen sollte, ohne es davor überhaupt ausprobiert zu haben. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt also nicht, ob das ganze in einem Fail enden wird oder ich mit meiner Einschätzung tatsächlich richtig lag. Während einer Zugfahrt begann ich also, mit meinem iPhone ein paar Atmos aufzunehmen, um einen ersten Eindruck über die Geräusche einer solchen Fahrt zu erhalten. Oftmals ist man sich nämlich gar nicht bewusst, wie laut die Schweizer Züge teilweise sind. Zuhause angekommen, wollte ich dann ein Zoom bei der Ausleihe reservieren. Ich merkte jedoch schnell, dass ich das Material lediglich für eine Woche ausleihen durfte und nicht für einen längeren Zeitraum, wie ursprünglich geplant, über die Weihnachtsferien. Und für zwei kurze Besuche in Chur innerhalb einer Woche (alles nur wegen eines Zoom-Geräts) konnte ich mir aus zeitlichen Gründen nicht leisten. Schnell verwarf ich also die technische Planung und setzte von nun an alles mit meinem Smartphone fort. Übrigens auch nicht das beste Modell, wenn man bedenkt, dass es sich dabei um ein iPhone 8 Plus handelt, welches schon einige Stürze hinter sich hat :-). Bei weiteren Zugfahrten nahm ich wieder Töne mit meiner Sprachnotiz-App auf und versuchte alle möglichen Abschnitte einzufangen. Das heisst das Warten auf den Zug, das Einsteigen, das langsame Abfahren, die Fahrt an sich, das Ankommen, das Aussteigen und das Laufen durch den überfüllten Bahnhof. Ich nahm sicherheitshalber dutzende längere Teile von Tönen auf, damit ich am Schluss viel Spielraum beim Zusammenschnitt habe. Dabei musste ich darauf achten, nie explizite Dialoge von fremden Passagierinnen und Passagieren aufzunehmen und stets mein Handy frei von allen Gegenständen zu halten, um Störgeräusche zu vermeiden.

Postproduction:
Zuhause versuchte ich dann aus den einzelnen Schnipseln eine realistische Zugfahrt zu basteln. Nicht zu lange, aber trotzdem so, dass man als Zuhörer:in das Gefühl hat, das Ganze im Zug mitzuerleben. Für die einzelnen Geräusche erstellte ich eine Liste mit allen benötigten Tönen. Einige davon nahm ich selbst auf und bei anderen (wie beispielsweise das Kind, der Hund, der Mann oder die Stöckelschuhe) bediente ich mich von lizenzfreien Sounds. Bei gewissen Tönen durchstöberte ich die Libraries stundenlang, bis ich das passende Exemplar gefunden hatte und schnitt teilweise auch 3-4 Beispiele zusammen, um schlussendlich den perfekten Ton zu erhalten (beispielsweise beim Hund). Zwischendurch sollte man die eigene Atmung hören, was die Nervosität und die Angst darstellen sollte. Man sollte sich also wirklich als Protagonist:in im Geschehen fühlen und identifizieren können. Ich habe bewusst maximal 3 laute Töne gleichzeitig ineinanderfliessen lassen, um die Zuhörer:innen nicht komplett zu überfordern. Wären es mehr gewesen, hätte sich wohl niemand die ganzen fünf Minuten geben können und wäre vorher ausgestiegen. So finde ich kommen die Geräusche auch viel intensiver daher und stehen für sich alleine. Es gibt kaum eine stille Sekunde ohne ein unangenehmes Geräusch, aber fast kein Geräusch dauert länger als zehn Sekunden an. Das ist in der Realität natürlich oft anders – dort hören hochsensible Menschen oftmals dutzende von Tönen gleichzeitig in voller Lautstärke und können es gar nicht mehr einordnen. Des Weiteren folgt zwischendurch auch ein Tinnitus-ähnliches Geräusch, welches den Kollaps darstellen sollte, also dass man vor lauter Reizüberflutung nicht mehr klar denken kann. Das wiederholt sich am Schluss, als die Protagonistin/der Protagonist aus dem Zug aussteigt und man denkt, dass die Situation nun eigentlich vorbei sein muss, doch die Reizüberflutung hört auch beim überfüllten Bahnhof nicht mehr auf. Da sind zwar nicht mehr viele einzelne Geräusche zu hören, aber es ist einfach eine sich zuspitzende Situation, welche kein Ende zu haben scheint. An diesem Punkt wird dann auch die unangenehme Musik eingeblendet, welche den Abspann darstellt und mit ihrem speziellen Genre eine solche Reizüberflutung widerspiegelt.

Learnings:
Mit dem iPhone ist vieles machbar, aber die Qualität wäre sicherlich höher gewesen, wenn alles mit einem Zoom aufgenommen worden wäre. Besonders bei den Zug-Atmos musste ich zwischendurch Stellen rausschneiden, da man einfach gehört hat, dass es beispielsweise beim Einsteigen an einen Gegenstand gekommen ist. Ich vermute, dass das mit dem Zoom-Gerät in den meisten Situationen vermeidbar gewesen wäre. Auch bei den Atmungsgeräuschen musste ich schauen, dass ich vom Mikrofon «wegblies», damit es aufgrund der ausstossenden Luft nicht zu unangenehmen Geräuschen oder Clippings kam. Grundsätzlich könnte das Projekt an in vielen Ebenen ausgebaut werden. Beispielsweise im visuellen Bereich (mit animierten Skizzen oder Lichtblitzen) oder einfach im Umfang – also dass man die Zuschauerin/den Zuschauer wortwörtlich mit Tönen bombardiert, bis sich alle Geräusche «aufeinandertürmen» und schliesslich zum Kollaps führen. In diesem Falle müsste das Projekt jedoch um einiges kürzer sein und viele Menschen würden womöglich schon früh aus dem Video aussteigen, weil es so unerträglich ist. Grundsätzlich finde ich also, dass dieses Projekt durchaus eine milde Form von Reizüberflutung darstellt und in den meisten Fällen bis zum Schluss ausgehalten werden kann.