Begraben in Lügen

Der Roman Begraben in Lügen wurde im Jahr 2021 von Lisa Tschirky begonnen. Das Werk ist noch in Arbeit und noch nicht komplett fertig gestellt. Der Roman fällt unter die Kategorie Liebesromane – Erotik.
Worum geht es?

Ich wollte wissen, wer ich bin.

Ich wollte wissen, woher ich komme.

Die junge Frau Victoria Ross beginnt ihr Studium an einem neuen Ort. Dort lernt sie auch den mysteriösen Liam Blackwood kennen. Er ist im ganzen Dorf und bei allen Studenten bekannt. Vor einundzwanzig Jahren kamen in dem Herrenhaus der Blackwoods drei Menschen ums Leben. Seither ist dieses Haus als das Horrorhaus von Meeso bekannt. Wie diese Personen gestorben sind, ist nicht genau bekannt. Doch als Victoria den Grabstein ihres verstorbenen Vaters auf dem Friedhof entdeckt, betritt sie eine düstere Welt, in der die Blackwoods und die Familie Ross, plötzlich eine finstere Vergangenheit aufzeigen.

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Heute habe ich keine Lust zu lesen

Kein Problem! Das Buch kannst du auch als Hörbuch hören.

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28 Minuten
Begraben in Lügen

Kapitel 1

42 Minuten
Begraben in Lügen

Kapitel 2

64 Minuten
Begraben in Lügen

Kapitel 3

19 Minuten
Begraben in Lügen

Kapitel 4

40 Minuten
Begraben in Lügen

Kapitel 5

32 Minuten
Begraben in Lügen

Kapitel 6

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Kapitel 1

Victoria

Rucksack, Tasche, Telefon. Ich glaube, ich habe alles. Nun heisst es Abschied nehmen.

«Victoria, wo bleibst du denn? Wir müssen los!», schreit meine Mutter die Treppe hinauf. Die Umzugsmänner tragen gerade das letzte Möbelstück aus meinem Zimmer. Ich folge ihnen zur Tür und blicke mich ein letztes Mal um. Das Licht scheint durch das Fenster auf die kargen weissen Wände. Würde ich nicht bereits seit meiner Kindheit darauf warten, endlich ausziehen zu können, würde ich vermutlich eine Träne unterdrücken müssen. Aber meine Lippen formen sich ununterbrochen zu einem Lächeln, welches dann in einem strahlenden Grinsen endet.

«Ich komme gleich!», rufe ich meiner Mutter zu und schliesse die Tür hinter mir. Während ich die Treppenstufen hinuntersteige, beginnt mein Herz zu rasen und die Vorfreude auf meine eigene Wohnung steigert sich ins unermessliche. Meine Mutter wartet bereits beim Auto auf mich. Mit dem Rücken an die Autotür gelehnt, betrachtet sie mich mit ungeduldigem Blick, während ich die Haustür hinter mir schliesse. Der warme Sommerwind streift mein Gesicht und lässt mein langes dunkles Haar über die Schultern gleiten.

«Wir wollten doch bereits vor zehn Minuten los. Hast du alles?», fragt mich meine Mutter, während sie mir die Tür öffnet und mich einsteigen lässt.

«Wir werden auch mit zehn Minuten Verspätung noch genug früh dort sein», antworte ich ihr, als sie sich hinters Steuer setzt. Meine Mutter ist sonst nicht sehr ungeduldig und besonders nicht so nervös. Ihr jetziger Zustand ist mir völlig fremd, denn normalerweise ist sie die Ruhe in Person. Während sie den Motor startet, blicke ich ein letztes Mal zu unserem Haus. Die helle Fassade und die Veranda mit der kleinen Bank werden mir fehlen. Im Sommer habe ich hier viel gelesen, während ich eingewickelt in einer Decke auf der Bank sass. Nun muss ich mir wohl ein neues Plätzchen suchen. Aber ich habe bei der Wohnungsbesichtigung bereits einen kleinen Park hinter dem Haus entdeckt.

Das Dorf Meeso liegt etwa siebzig Kilometer von der Stadt entfernt. Nach einer knappen Stunde fahren wir durch die grüne Landschaft, vorbei an Einfamilienhäusern, in die Mitte des Dorfkerns. Eigentlich ist es schon verwunderlich, dass eine Universität an einem Ort wie diesem hier gebaut werden konnte. Abgesehen von ein paar Restaurants, Bars und einem einzigen Nachtclub, gibt es hier nicht viel. Es ist eher ein Feriendorf als ein Ort, in dem man sesshaft wird. Wir parken das Auto vor einem älteren Gebäude, dessen Fassade zum grössten Teil aus Holz besteht. Pflanzen ringen sich um das Geländer und wachsen die dicken Balken nach oben. Meine Wohnung ist im ersten Stock. Meine Mitbewohnerin Jessica sitzt auf der steinernen Treppe, welche zur Haustür führt und springt auf, als sie mich aus dem Auto aussteigen sieht. Bevor ich auch nur irgendetwas erwidern kann, fällt sie mir schon um den Hals.

«Victoria, endlich bist du da! Das wird super! Ich kann es kaum erwarten die Wohnung fertig einzurichten.»

«Auch dir einen guten Morgen. Sind deine Sachen schon oben?», frage ich Jessica mit einem Grinsen im Gesicht, während ich meine hundert Taschen und Rucksäcke aus dem Auto nehme.

«Alles schon eingeräumt. Naja, soweit das eben möglich ist mit der Hälfte aller Möbel.»

Jessica begrüsst meine Mutter mit einer Umarmung und hüpft vor uns fröhlich die Treppenstufen nach oben.

«Braucht ihr noch Hilfe beim Auspacken?», fragt mich meine Mutter.

«Nein ich denke wir kommen klar.»

«Gut, dann fahr ich zurück. Wenn etwas ist, rufst du mich an, ja?»

«Klar Mama. Danke fürs Fahren», antworte ich ihr, während ich sie zum Abschied umarme und mein Gesicht an ihre Halsbeuge schmiege.

«Viel Glück am Montag und schreib mir, falls du etwas brauchst. Ich hab dich lieb.»

«Ich dich auch, Mama», antworte ich ihr leise und löse mich aus ihrer Umarmung. Ich bleibe noch so lange stehen und sehe ihr nach, bis das Auto um die nächste Ecke verschwunden ist.

«Ist deine Mutter schon weg?», schreit Jessica durch die Wohnung, als ich gerade durch die Tür trete. Die Wohnung ist ein Altbau. Sie wurde zwar renoviert, aber trotzdem wurden gewisse Details wie die Holzbalken an der Decke und die Verzierungen an den Wänden beibehalten. Wir haben zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer sowie eine grosse, offene Küche und ein kleines Badezimmer. Die Wohnung wirkt hell und freundlich, auch wenn sie gerade noch etwas leer ist.

«Ja, zum Glück. Ich habe sie ja lieb, aber manchmal habe ich das Gefühl, sie möchte mich am liebsten nie gehen lassen», lache ich und ziehe meine Schuhe aus und verstaue sie im Schuhregal. In diesem Moment klingelt die Umzugsfirma an der Tür. Ich öffne ihnen und lasse sie eintreten.

Fünf Stunden später stehen Jessica und ich mit einem Glas Rosé in unserer Küche, welche sich im gleichen Raum wie das Wohnzimmer befindet, und stossen auf unsere gemeinsame Wohnung an. Von dem ganzen Umzug und Kisten auspacken bin ich völlig erschöpft. Aber die Arbeit hat sich gelohnt. Das Einzige was noch fehlt sind Pflanzen, welche die Wohnung etwas freundlicher gestalten.

«Ich hätte ehrlich gesagt nie gedacht, dass wir mal zusammen wohnen. Geschweige denn zusammen studieren werden. Wir sollten nachher noch einkaufen gehen, sonst haben wir morgen nichts zum Frühstück», rufe ich Jessica zu, die sich gerade ihr zweites Glas Wein einschenkt. Ich habe mich in unserer neuen Leseecke, im Erker, niedergelassen und blicke auf die belebte Strasse nach unten. In diesem Dorf gibt es nur eine Hauptstrasse, an der sich alles befindet. Gegenüber von unserem Haus gibt es ein kleines Café mit hübschen verzierten Tischen und Stühlen. Es wirkt schon fast etwas kitschig mit der Abendsonne, welche auf den mit Pflanzen und Blumen geschmückten Platz scheint. Jessica stimmt mir zu und lässt sich neben mir nieder. Ihre roten Zapfenlocken fallen ihr über die Schultern und hüpfen auf und ab, wenn sie den Kopf dreht. Was würde ich für solche Haare geben. Meine sind dunkelbraun und glatt. Neben Jessica sehe ich wie ein Mauerblümchen aus, während sie wie eine Göttin neben mir hervorragt. Ihre grünen Augen leuchten und ihre Sommersprossen verteilen sich über das gesamte Gesicht. Als wir noch klein waren, war ich immer neidisch auf sie. Wir mochten uns überhaupt nicht und haben uns immer gestritten. Als wir dann in die erste Klasse kamen, mussten wir zusammen eine Gruppenarbeit machen. Viel davon weiss ich nicht mehr, doch irgendetwas muss passiert sein und seit da an sind wir unzertrennlich.

Am nächsten Morgen wache ich noch vor dem Wecker auf. Die Sonne kitzelt meine Nase und mir ist heiss. Der Sommer hat sich dieses Jahr etwas verspätet, weswegen es nun Mitte September immer noch dreissig Grad warm wird am Tag. Während ich die Maserung des Holzes an der Decke betrachte, höre ich Jessica in der Küche und der Geruch von Spiegeleiern und Speck steigt mir in die Nase. Ich springe aus dem Bett, binde mir meine Haare zu einem unordentlichen Knoten zusammen und betrete die Küche.

«Guten Morgen. Gut geschlafen?», fragt mich Jessica, ohne den Blick von der Pfanne zu lösen. Ich öffne den Kühlschrank und nehme Butter, Orangensaft und Marmelade heraus.

«Und wie. Ich glaube, ich habe schon lange nicht mehr so tief und fest geschlafen. Wie geht es dir?»

«Perfekt, ich war bereits joggen und habe frische Brötchen beim Beck geholt.»

Sport am Morgen. Auf so eine Idee kann auch nur Jessica kommen. Ich runzle die Stirn und verkneife mir einen Kommentar.

«Willst du Kaffee?», antworte ich ihr, während ich die Espressokanne mit Wasser und Kaffeepulver fülle.

«Ja gerne.»

«Wo warst du joggen?», erkundige ich mich und decke den Tisch mit Teller und Besteck. Jessica nimmt einen kleinen Teller aus dem Schrank und lässt die beiden Spiegeleier und die Speckstreifen aus der Pfanne gleiten. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich habe gar nicht gemerkt, wie hungrig ich eigentlich bin und hole die letzten Sachen aus der Küche. Nun sitzen wir beide mit einem Glas Orangensaft und dampfendem Kaffee an unserem gut gedeckten Frühstückstisch.

«Hinter dem Haus hat es einen kleinen Park und noch weiter hinten ist der Wald. Dort bin ich am Waldrand entlanggelaufen. Hast du gesehen, dass hinter dem Park ein Friedhof ist?», fragt mich Jessica, während sie sich Milch in ihren Kaffee giesst.

«Nein, aber meine Mutter hat mir davon erzählt. Er soll der grösste in der Umgebung sein.»

«Finde ich ehrlichgesagt schon etwas gruselig, neben einem Friedhof zu wohnen.»

«Als ob plötzlich ein Geist an unsere Tür klopft, Jessica. Du schaust zu viele Horrorfilme», antworte ich ihr und beisse genüsslich in mein Honigbrötchen.

Nach dem Frühstück gehen wir zusammen den Stundenplan durch. Da Jessica und ich den gleichen Studiengang gewählt haben, ist es nicht verwunderlich, dass wir auch die gleichen Vorlesungen haben werden.

«Ich frage mich, wie viele sonst noch Geschichte als Hauptfach gewählt haben. Es gibt Universitäten, in der mehrere hundert Studenten in einem Vorlesesaal sind. An unserer Schule bezweifle ich das jedoch. Die meisten gehen doch eher in die Grossstadt studieren und kommen nicht an einen solch abgelegenen Ort.»

«Ich glaube nicht, dass der Ort an sich etwas mit der Anzahl Studenten zu tun hat», antwortet mir Jessica, während sie sich ihre Termine in die Agenda einträgt.

«Wie meinst du das? Wovon sprichst du?»

«Ist nur so ein Gedanke. Morgen beginnt die Versammlung für die Erstsemestler um neun Uhr. Ich denke, wir sollten so circa um halb neun Uhr mit dem Fahrrad los. Dann sind wir genug früh dort und können uns gleich noch etwas umsehen.» Jessica nickt zufrieden und segnet somit ihren Plan ab.

Der Weg zur Universität ist doch etwas länger als gedacht. Mit dem Fahrrad brauchen wir rund zwanzig Minuten. Der Weg führt hinaus aus dem Dorf, ein bisschen den Hügel hinauf. Das alte Gebäude ähnelt einem Schloss, welches zur Hälfte in den Berg hineingebaut wurde. Die grossen Tannen um die dunklen Mauern lassen das Gebäude noch düsterer und geheimnisvoller wirken. Vor dem grossen Eingangstor stehen bereits etliche junge Studenten, voll bepackt mit Büchern in den Armen und dicken Rucksäcken auf den Schultern.

«Komm schon Victoria. Sonst sind wir zu spät», ruft mir Jessica zu und bewegt sich Richtung Eingang. Ich schliesse mein Fahrrad ab und folge ihr in die dunkle Einrichtung. Die Eingangshalle ist riesig und die Decke ist eine Art Kuppel. Direkt vor mir befindet sich eine grosse Treppe, welche sich im Zwischenstock auf der rechten und linken Seite in die entgegengesetzte Richtung weiter nach oben zieht.

«Hier könnte ich mich glatt verlaufen», flüstere ich Jessica zu, weil ich mich nicht getraue in normaler Lautstärke zu sprechen. Jessica stimmt mir brummend zu und geht auf der Linken Seite durch eine Doppeltür in einen grossen Saal. Die meisten Studenten haben bereits auf ihren Stühlen Platz genommen und starren nach vorne auf die kleine Tribüne. Wir finden zwei freie Plätze in der vordersten Reihe und lassen uns auf ihnen nieder. Die Begrüssung ist, wie meistens an solchen Schulen, eher langweilig. Nach einer Stunde dürfen wir den Saal verlassen und bekommen eine kleine Führung durch das Gebäude. Weil in diesem Jahr noch weniger Studenten als sonst ihre Ausbildung beginnen, fühlt es sich schon fast so an wie eine grosse Klasse, die sich auf Entdeckungstour begibt.

Beim Mittagessen setzen Jessica und ich uns zu Alex und Nathalia. Sie sitzen an einem Tisch in der hintersten Ecke der Mensa und diskutieren ausgiebig miteinander.

«Worüber streitet ihr euch?», fragt Jessica mit einem breiten Grinsen im Gesicht, während sie ihr Tablett auf den Tisch stellt.

«Wir streiten nicht, wir diskutieren. Da gibt es einen Unterschied», antwortet ihr Alex mit erhobenen Augenbrauen. Ich muss zugeben, dieser Mann hat schönere gezupfte Augenbrauen als jede Frau auf dieser Welt.

«Alex möchte einen purpurnen Teppich im Badezimmer. Ich jedoch finde, dass diese Farbe nicht wirklich zum Inventar passt», erklärt Nathalia spitzfindig und nippt an ihrem Kaffee. Alex und Nathalia wohnen genauso wie Jessica und ich in einer Wohngemeinschaft. Aber ihr Einrichtungsstil unterscheidet sich wohl grundlegend voneinander. Bin ich froh, dass Jessica und ich uns in so vielem ähnlich sind.

«Habt ihr bereits neue Leute kennen gelernt?», frage ich in die Runde. Ich nehme neben Alex, gegenüber von Jessica, Platz und beginne eifrig, mein Essen in mich hineinzuschaufeln.

«Abgesehen von euch beiden noch niemand», antwortet mir Nathalia schulterzuckend.

«Im Gegensatz zu euch beiden sind die anderen nicht sehr gesprächig», ergänzt Alex und blickt sich in der Mensa um. Die meisten sitzen zwar in Gruppen, unterhalten sich aber nicht sehr ausgiebig. Schade eigentlich.

«Kommt ihr am Donnerstag auch zur Party?», fragt Alex.

«Was für eine Party?», antwortet Jessica ihm aufgeregt. Ihre Augen beginnen zu leuchten bei diesem Stichwort.

«Die Drittsemestler schmeissen eine Willkommensparty für uns. Hier in der Schule. Genauer gesagt draussen im Vorgarten. Es wird grilliert und soll genug Alkohol geben für alle.»

«Cool! Also ich bin dabei. Victoria was ist mit dir?», fragt mich Jessica und klatscht vor Freude in die Hände. Jessica sagt grundsätzlich nie nein zu einer Party. Manchmal frage ich mich wirklich, wie eine so zierliche Person so viel Alkohol vertragen kann.

«Ich komme auch. Um welche Zeit startet das Fest?», erkundige ich mich bei Alex und tupfe mir die Lippen mit der Serviette ab.

«Neunzehn Uhr. Das wird klasse!»

Der Rest der Woche verläuft eher gemütlich als stressig. Es müssen organisatorische Dinge erledigt werden, wie den Mail Account einrichten, die restlichen Bücher besorgen oder die Lizenzen für die Computerprogramme kaufen. Weil Jessica und ich uns bereits vor Studiumbeginn darum gekümmert haben, können wir diese Woche mehr Zeit für uns nehmen.

Am Donnerstag treffen wir uns um achtzehn Uhr bei Nathalia und Alex in der Wohnung. Sie wohnen eher am Dorfrand. Ihre Wohnung ist etwa ähnlich gross wie unsere und ebenfalls geschmückt mit dunklen Holzbalken an den Decken.

Alex öffnet uns strahlend die Tür. «Herzlich Willkommen meine Hübschen!»

Er sieht zum Anbeissen aus. Wäre ich ein Mann und homosexuell, würde ich ihn glatt mit nach Hause nehmen. Seine schwarzen Jeans sitzen eher etwas eng und sein weisses T-Shirt spannt sich um seinen Bizeps und seine Brustmuskeln. Sein dunkles Haar ist nach hinten gekämmt und einzelne Strähnen fallen ihm ins Gesicht, wodurch seine schwarzen Augen und seine markanten Wangenknochen noch intensiver zur Geltung kommen. Die schwarze Lederjacke sitzt perfekt auf seinen breiten Schultern und rundet das Outfit ab.

«Alex du siehst richtig gut aus! Schade bewegst du dich am anderen Ufer», meint Jessica grinsend und umarmt ihn zur Begrüssung. Alex macht kein Geheimnis aus seiner Sexualität, sondern steht offen dazu und nimmt deswegen auch kein Blatt vor den Mund. Dies haben wir bei unserem Kennenlernen schnell festgestellt, und ich finde das super.

«Danke gleichfalls. Kommt doch rein!» Alex winkt uns hinein und schliesst hinter uns die Tür. Nathalia steht im Badezimmer, welches sich am Ende des Ganges befindet, und tuscht sich gerade die Wimpern. Ihr kurzes Kleid schmiegt sich eng um ihre Hüfte. Ihr blonder Longbob ist perfekt gestylt und lässt ihr herzförmiges Gesicht noch liebevoller aussehen. Gerade als ich sie begrüssen möchte, dreht sie den Kopf in unsere Richtung und ein Strahlen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Sie hüpft auf uns zu und umarmt Jessica und mich gleichzeitig.

«Wie schön euch zu sehen! Wollen wir gleich los?», fragt Nathalia mit leuchtenden Augen.

«Moment! Erst genehmigen wir uns noch ein Glas Wein und stossen gemeinsam auf eine fantastische Zeit an», erwidert Alex und verschwindet in der Küche.

Bereits etwas angetrunken und schon etwas lustig erreichen wir kurz nach acht Uhr die Schule. Die meisten Studenten sind bereits da und haben ebenfalls schon Alkohol intus. Wir mischen uns unter die Leute und füllen unsere Teller am Buffet mit vielen verschiedenen Salaten, Fleisch vom Grill und Brot. Alex setzt sich an einen leeren Tisch und beginnt, sein Essen in schnellem Tempo in sich hineinzuschaufeln.

Ein paar Stunden später sitzen wir alle vier lachend immer noch am selben Tisch. Inzwischen haben sich jedoch noch ein paar andere Studenten zu uns gesellt. Timo studiert Psychologie und ist ein eher kleingewachsener junger Mann. Seine braunen Locken fallen ihm wirr ins Gesicht. Enrico hingegen ist das pure Gegenteil von Timo. Ihn könnte man eher mit Alex vergleichen. Er ist gross, gutaussehend und hat eine tiefe und ruhige Stimme. Enrico ist in unserer Klasse und fiel mir anfangs Woche bereits auf, weil er jeden um mindestens einen Kopf überragt. Kerstin ist eine kleine zierliche Gestalt und gibt nicht viel von sich preis. Sie ist eher schüchtern und beteiligt sich nur spärlich an der Konversation. Es scheinen aber alle drei ganz nett zu sein.

«Was studierst du Kerstin?», fragt Alex sie musternd. Ich habe das Gefühl, dass Alex sie aus irgendeinem Grund nicht mag. Aber vielleicht ist das auch der Alkohol, der meine Sinne etwas durcheinanderbringt.

«Auch Psychologie», antwortet sie ihm knapp und blickt dabei auf ihre Finger in ihrem Schoss. Das Gespräch war somit auch schon fast wieder beendet. Gerade als ich mich erheben will, um mir ein neues Bier zu holen, höre ich aus allen Ecken Getuschel und Geflüster. Ich blicke mich um, was es hier zu sehen gibt, kann aber nichts Auffälliges entdecken. Als ich dem Blick von Jessica folge, sehe ich eine grosse Gestalt, die in einer Ecke an die schwarze Hauswand lehnt. Nicht nur sie bleibt mit ihrem Blick an diesem Ort hängen. Auch andere starren wie gebannt in die dunkle Ecke. Ich blicke abwechselnd die Leute aus meiner Gruppe an.

«Was ist los? Warum starren alle diesen Typen an?», frage ich leise in die Runde.

«Das ist Liam. Liam Blackwood. Seiner Familie gehört das Horrorhaus», flüstert mir Enrico leise zu.

«Horrorhaus? Wovon sprichst du?», antworte ich ihm irritiert.

«Kennst du die Geschichte nicht von dem Horrorhaus aus Meeso?»

«Ehrlichgesagt nein.»

«Das ist auch eher eine Legende als eine Geschichte», ergänzt Nathalia. Enrico dreht den Kopf wieder in unsere Richtung und widmet sich direkt Nathalia zu.

«Das stimmt so nicht ganz.» Er trinkt ein Schluck Bier und räuspert sich. «Ich habe ihn heute morgen im Haus gesehen. Genauer gesagt im Garten. Das Haus ist wieder bewohnt.»

«Wo ist dieses Haus?», frage ich ihn. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen und mir wird etwas schlecht. Normalerweise ist Jessica diejenige von uns, die Angst vor Geistergeschichten hat.

«Neben dem Friedhof», antwortet Nathalia mir. «Es ist das grosse Herrenhaus mit dem Teich im Garten und der Familiengruft, welche mit dem Friedhof verschmilzt. Nur ein kleiner Zaun trennt das Anwesen von den anderen Gräbern des Friedhofs.»

«Wir wohnen auch neben dem Friedhof», entgegnet Jessica. Sie scheint aus ihrer Starre entkommen zu sein und blickt nun auch wieder in unseren Kreis.

«Was ist in dem Haus passiert?», frage ich vorsichtig. Meine Stimme zittert etwas. Ich sollte wirklich weniger trinken.

«Nichts», erwidert Nathalia etwas genervt. «Es ist eine Legende, um Touristen anzulocken. Sonst gibt es ja nichts Spannendes in diesem Dorf.» Nathalia steht auf und entfernt sich von uns. Der Rest der Gruppe blickt wieder auf den Fleck in der Ecke. Doch nun liegt dort nur noch der dunkle Schatten der Tanne, welcher durch das Mondlicht auf die Hauswand geworfen wird.

Am nächsten Morgen brummt mir der Schädel. Ich glaube, ich hatte seit Jahren nicht mehr so einen Kater wie heute. Mit finsterer Miene betrete ich die Küche. Jessica ist wohl noch nicht wach. Normalerweise ist sie ein totaler Frühaufsteher, aber sobald sie Alkohol trinkt, schläft sie am nächsten Morgen aussergewöhnlich lange. Ich öffne das Fenster und lasse die kühle Luft hineinströmen. Kaffee, ich brauche dringend Kaffee.

Mit der heissen Tasse lasse ich mich aufs Sofa fallen und schlürfe die braune Flüssigkeit in mich hinein. Sobald die Tasse leer ist, mache ich mir ein schnelles Frühstück und stehe anschliessend unter die Dusche. Das kalte Wasser lässt mich klar denken und weckt in mir das Bedürfnis, draussen einen Spaziergang zu machen. Meeso verändert offenbar Menschen nach kürzester Zeit. Normalerweise bin ich eher der Ich-bleibe-Zuhause-Typ.

Auf der Hauptstrasse ist bereits einiges los. Heute haben wir keine Schule, weswegen auch einige Studenten unterwegs sind, welche ich gestern Abend flüchtig kennenlernte. Ich schlendere der Strasse entlang und biege um die Ecke hinter das Haus ab. Es erstreckt sich eine weite Landschaft aus saftigem grünem Gras und dahinter steigt hoch und dunkel der Wald empor. Nach ein paar Minuten erreiche ich über einen Kiesweg den Friedhof. Der Weg führt durch die Mitte durch, weiter Richtung Wald. Die warme Sommersonne wärmt meine Haut. Zum Glück, denn ich habe keine Jacke mitgenommen. Der Friedhof wird von einem schwarzen, spitzen Zaun umgeben. Ich beschreite das schwere Eisentor und blicke mich um. Es gibt nur wenige Grabsteine. Vielleicht zwei oder drei Dutzend. Mein Blick bleibt an einem Pavillon ähnlichem Gebilde hängen. Es gehört nicht zum Friedhof, denn der Zaun erstreckt sich vor dem Bauwerk. Das muss die Familiengruft sein, von der Nathalia gesprochen hat. Das Anwesen auf diesem Grundstück ist ein massives, dunkles Gebäude aus Holz und Stein. Die Fenster auf dieser Seite sind zwei Stockwerke hoch und schmücken fast die gesamte Länge des Hauses. Das Haus wirkt dunkel und irgendwie unsympathisch. Schon fast einschüchternd. Ich gehe den beiden Grabreihen entlang und betrachte die schön verzierten Grabsteine. Dabei entdecke ich einen Namen: Josh Ross. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Mein Herz schlägt schneller und mein Atem wird hektischer. Das kann doch nur ein Zufall sein, oder? Mama hätte mir sicher davon erzählt. Ich löse meinen Blick und hebe meinen Kopf. Dabei erhasche ich eine Gestalt, die sich wie ein Schatten vor der Familiengruft bewegt. Ich muss ein paar Schritte nach links gehen, um die Person zu erkennen. Liam steht vor dem Gebilde, die Hände im Schoss zusammengefaltet. Seine hellbraunen Haare sind zerzaust und stehen kreuz und quer von seinem Kopf ab. Er trägt dunkelblaue Jeans, ein schwarzes lockeres T-Shirt und weisse Sneakers. Seine Wangenknochen stehen hervor und seine gesamte Statur wirkt eher etwas zerbrechlich als robust. Seine Brust hebt und senkt sich langsam. Sein Blick ist auf den Boden gerichtet. Ich mache einen Schritt nach vorne und trete dabei auf einen Zweig, der mit einem lauten Knacks auseinanderbricht. Liam hebt den Kopf und blickt mich geradewegs an. Seine eisblauen Augen treffen meine. Doch in seinem Gesicht bewegt sich kein einziger Muskel. Er wendet sich ab, steckt die Hände in die Hosentaschen, geht über den Rasen zurück zum Anwesen und verschwindet hinter der schweren Tür. Ich weiss, eigentlich hat man auf fremden Anwesen und bei fremden Familiengruften nichts zu suchen. Aber mich nimmt es trotzdem wunder, was für eine Inschrift in den Stein gemeisselt ist. Ich gehe den Zaun entlang um das Anwesen herum, bis ich auf der Vorderseite des Grundstückes stehe. Nun kann ich von der Seite den Eingang der Familiengruft betrachten. Vor dem Tor stehen zwei dicke Säulen und Efeuranken schlängeln sich dem Fundament nach oben. Auf der rechten Seite ist ein grosser Grabstein, auf dem die Namen Alice und Gerhard Blackwood eingemeisselt sind. Was ist hier bloss passiert? Ich blicke noch einmal zu dem Anwesen. Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Dieser Ort fühlt sich kalt und gefährlich an. Obwohl es nur ein Anwesen ist und ich nur einige wenige Dinge über diesen Ort erfahren habe, weiss ich, dass ich dieses Haus niemals betreten möchte.

Kapitel 2

Victoria

Während ich die Wohnung betrete, vernehme ich bereits diverse Flüche in unterschiedlichen Sprachen war. Jessica muss wohl wach sein und hat offensichtlich einen heftigeren Kater als ich. Sie steht in der Küche und kocht sich Speck-Ei-Toast. Das ist ein Spiegelei auf mehreren Speckstreifen auf einer Scheibe Toast. Das perfekte Katerfrühstück. Aber so wie es aussieht, hat sie die Herdplatte zu heiss eingestellt und nun spritzt das Fett in alle Richtungen.

«Guten Morgen Sonnenschein», necke ich sie, während ich die Küche betrete.

«Gib bloss keine lauten Geräusche von dir, sonst haben wir hier bald einen neuen Krieg am Laufen», erwidert Jessica bitter und blickt wieder genervt auf ihr Frühstück.

«Wenn du etwas besser gelaunt bist, kann ich dann mit dir über etwas reden?»

«Klar, gib mir eine halbe Stunde Zeit, bis ich mein Frühstück gegessen und mehrere Kaffeetassen getrunken habe», antwortet sie mir, während sie mit ihrem Teller an mir vorbei geht und sich an den Tisch setzt. Ich nehme gegenüber von ihr Platz und blättere interessiert in der neuen Ausgabe der Vogue.

Ich denke, eine Stunde später kann ich es wagen, Jessica anzusprechen. Sie hat bereits vier Espressi getrunken und ihre dritte Mahlzeit verputzt. Der Drache scheint nun erstmals besänftigt zu sein.

«Ich war heute morgen auf dem Friedhof», beginne ich zu erzählen und hebe den Blick. «Dort habe ich einen Grabstein mit der Inschrift Josh Ross entdeckt.» Jessica dreht ihren Kopf zu mir. Sie richtet sich auf dem Sofa auf und zieht ihre Beine an die Brust.

«Hast du mit deiner Mutter schon geredet?», fragt sie mich bedrückt.

«Nein, noch nicht. Ich weiss nicht, wie ich mit ihr darüber reden soll. Sie hat noch nie viel von meinem Vater erzählt. Vielleicht ist es ja auch gar nicht sein Grabstein und das alles ist nur ein dummer Zufall», seufze ich und lasse meinen Kopf in den Nacken fallen. Bereits während ich diese Worte ausspreche, merke ich, wie falsch und kurios sie klingen.

«Und wenn es sein Grabstein ist?», hackt Jessica nach.

«Dann… Weiss ich auch nicht so genau. Ich habe meinen Vater schliesslich nie kennen gelernt», antworte ich ihr und erhebe mich von meinem Stuhl. Ich lasse mich neben Jessica nieder und ziehe die Decke über mich. Es fühlt sich fast so an, als würde mich die Decke vor allem Ungewissen, vor allem Bösen auf der Welt beschützen.

«Ich weiss, er ist gestorben als du noch ein Baby warst», entgegnet Jessica mit sanfter Stimme. Sie streichelt meine Schulter und drückt sie leicht.

«Eigentlich ist es doch albern. Ich trauere einem Menschen nach, den ich nicht mal gekannt habe. Ich habe keinerlei Verbindung zu ihm, und trotzdem bedrückt es mich.» Ich vergrabe mein Gesicht zwischen meinen Knien.

«Ich glaube das ist ganz normal. Ich würde mal mit deiner Mutter sprechen. Die Sache klärt sich sicher schneller als gedacht», antwortet Jessica mir aufmunternd. Hoffentlich hat sie recht.

Den Rest des Tages verbringe ich hauptsächlich in meinem Bett und sehe mir irgendwelche Serien auf Netflix an. Ich habe mich noch nicht dazu überwinden können, meine Mutter über die heutigen Ereignisse zu informieren. Nun ist es bereits nach zwanzig Uhr. Jessica klopft an meiner Zimmertür. Ich antworte ihr mit einem Brummen, worauf sie ihren Kopf in mein Zimmer streckt.

«Hast du sie schon angerufen?», fragt sie mich leise. Natürlich fragt sie nach. Jessica konnte es noch nie leiden, wenn ein Geheimnis nicht offengelegt wurde. Sie muss immer über alles und jeden informiert sein. Ich hingegen habe kein Problem damit, gewisse Dinge auch mal ruhen zu lassen. Man muss nicht alles auf dieser Welt wissen. Aber ich denke, bei diesem Thema wäre es vielleicht schon nicht schlecht, genauer darüber informiert zu sein.

«Nein noch nicht», antworte ich ihr mit einem tiefen Seufzer.

«Ich wusste es. Okay, ich gehe nicht, bevor du deine Mutter nicht angerufen hast», entgegnet sie mir. War ja klar. Ich verdrehe die Augen und setze mich in meinem Bett auf. Jessica lässt sich neben mir nieder und starrt mich erwartungsvoll an.

«Ist ja gut, jetzt mach mal nicht so einen Stress», blaffe ich genervt und nehme mein Telefon in die Hand. Doch bevor ich die Nummer meiner Mutter wähle, halte ich inne.

«Was soll ich ihr sagen?», frage ich unsicher.

«Frag einfach gerade aus, ob dein Vater hier begraben liegt. Du hättest einen Grabstein mit seinem Namen entdeckt», antwortet mir Jessica locker. Aus ihrem Mund klingt das so einfach. Na gut, Augen zu und durch. Ich wähle die Nummer und warte bis meine Mutter den Hörer abnimmt.

«Ja Schatz, wie geht es dir?», höre ich aus dem Lautsprecher die Stimme meiner Mutter sagen.

«Hallo Mama, mir geht es gut. Ich wollte dich etwas fragen», ich halte kurz inne, weil meine innere Stimme laut schreit, dass ich dies nicht tun soll. «Ist Papa hier in Meeso begraben? Ich habe einen Grabstein mit seinem Namen auf dem Friedhof entdeckt.» Sie antwortet nicht sofort und es bleibt ein paar Sekunden lang still.

«Mama?», hake ich nach.

«Ja», seufzt sie. «Dein Vater ist hier begraben.»

«Wieso hat du mir nie davon erzählt?», antworte ich ihr mit zitternder Stimme.

«Weil ich dich nicht damit belasten wollte. Abgesehen davon trauere ich immer noch um deinen Vater.» Ihre Stimme bricht mir das Herz. Mama hat nie viel von Papa erzählt und ich habe nie oft nachgefragt. Der Schmerz sitzt offenbar immer noch tief und ich möchte nicht die Wunde wieder aufreissen.

«Können wir irgendwann darüber reden?», frage ich sie leise.

«Irgendwann, ja», antwortet sie mir. Viel länger dauert unser Gespräch nicht, denn nach dieser Frage wollte keine von uns sich noch weiter unterhalten. Ich beende das Gespräch und erzähle Jessica, was meine Mutter gesagt hat.

«Mehr hat sie nicht gesagt?», fragt Jessica erstaunt.

«Nein. Offenbar fällt es ihr immer noch schwer, darüber zu sprechen.» Jessica umarmt mich und hält mich in ihren Armen fest.

«Wenigstens weisst du nun Bescheid. Das ist doch auch etwas», sagt sie leise, die Lippen an mein Haar gepresst. «Was hältst du davon, morgen schwimmen zu gehen? Eine Ablenkung würde dir sicher guttun. Wir könnten Alex und Nathalia fragen, ob sie auch mitkommen.» Eigentlich wollte ich mich morgen mit einem Buch in unserem Erker verkriechen, aber vielleicht tut mir der soziale Kontakt besser als die Einsamkeit.

«Von mir aus. Fragst du nach?»

«Klar, ich rufe sie gleich an», antwortet Jessica aufgeregt und hüpft aus meinem Zimmer.

Am nächsten Morgen auf dem Weg zum See begegnen Jessica und ich Nathalia und Alex. Auch sie sind mit ihren Fahrrädern unterwegs, wobei Nathalia noch nicht ganz fit und munter scheint.

«Guten Morgen ihr zwei», begrüsse ich sie mit einem strahlenden Lächeln.

«Morgen», brummt Nathalia, den Blick starr auf den Weg gerichtet. Sie ist definitiv kein Morgenmensch.

«Wieso genau sollten wir uns so früh auf den Weg machen?», fragt Alex mit müdem Blick. Seine Haare sind etwas zerzaust, sehen aber trotzdem immer noch gut aus.

«Weil der See in einer Lichtung im Wald liegt und wir mindestens dreissig Minuten brauchen, bis wir dort sind. Abgesehen davon ist es ein herrlicher Tag!», ruft Jessica begeistert und fährt uns voraus.

Der Weg führt durch den Park, vorbei an dem Friedhof und dem Horrorhaus und dann geradewegs in den dunklen Wald hinein.

«Ihr habt mir immer noch nicht erzählt, wieso dieses Haus ‹Horrorhaus› genannt wird», frage ich die anderen, als wir gerade an dem grossen Herrenhaus vorbeifahren.

«Psst, nicht so laut!», faucht Alex mich an. «Ich möchte lieber nicht hier darüber sprechen. Ich erzähle dir die Geschichte, wenn wir am See sind.»

Im Wald riecht es nach nassem Holz und feuchten Tannennadeln. Die warmen Sonnenstrahlen scheinen zwischen den Lücken der Bäume hindurch und werfen spielerische Schatten auf den Boden. Wir erreichen den See nach gut fünfundvierzigminütiger Fahrt und lassen unsere Fahrräder angelehnt an einem grossen Stein stehen. Wir nehmen unsere Rucksäcke und gehen ein paar Schritte dem Ufer entlang, bis wir auf eine grosse Wiese treten. Hier breiten wir unsere Decken aus, streifen die Schuhe von unseren Füssen und lassen uns auf den weichen Stoffen nieder. Jessica stellt den Picknickkorb in die Mitte und beginnt summend, das Essen auszupacken. Wir haben zu Hause belegte Brötchen vorbereitet, Gemüse geschnitten und viele Früchte eingepackt. Chips und Süsses haben Alex und Nathalia mitgebracht.

Der See schimmert leicht, seine Farbe ist fast schwarz und lässt ihn unendlich tief erscheinen. Vögel zwitschern in den Bäumen und verleihen dem Ort einen gewissen Charme. Am liebsten würde ich immer hierbleiben.

«Also, was ist denn nun mit diesem Horrorhaus?», frage ich erneut. Alex seufzt und steckt sich eine Traube in den Mund. Er kaut langsam und sieht in die Ferne. Es scheint, als müsse er die passenden Worte finden, weil die Geschichte viel zu grausam ist, um sie mit unüberlegten Worten zu erzählen.

«Die Geschichte beginnt vor einundzwanzig Jahren. In dem Haus lebte ein Ehepaar namens Alice und Gerhard Blackwood. Sie waren ein glückliches Paar und erhielten drei Kinder. Drillinge», beginnt Alex die Geschichte zu erzählen.

«Es waren Zwillinge, nicht Drillinge», korrigiert ihn Nathalia. «Es wurden nur zwei Kinder geboren.»

«Wie du meinst. Ich habe gehört, dass es Drillinge waren», blafft Alex sie an.

«Also wisst ihr nicht genau, was dort an diesem Ort geschehen ist?», fragt Jessica mit gerunzelter Stirn.

«Naja nicht genau. Tatsache ist jedoch, dass in diesem Haus insgesamt drei Personen ums Leben kamen. Einige sagen, Gerhard Blackwood wurde ermordet, genauso wie seine Frau Alice. Andere behaupten, er hätte einen Unfall gehabt und Alice sei im Kindbett gestorben. Nur die Drillinge haben überlebt.»

«Zwillinge», korrigiert Nathalia Alex schon wieder. «Aber was mit den Kindern passiert ist, weiss man nicht. Vermutlich kamen sie zu Pflegeltern.»

«Das ist ja schrecklich», flüstere ich leise in mich hinein. «Und Liam ist eines dieser Kinder?»

«Exakt. Da er seinen Nachnamen behalten hat nehme ich an, er wurde nicht adoptiert, sondern nur bei einer Familie aufgenommen», antwortet mir Nathalia. «Aber wisst ihr, das ist eine Geschichte, die von Person zu Person weitererzählt wurde. Sie wurde sicher ausgeschmückt und abgeändert. Ich nehme an, dass in diesem Haus nichts Schlimmes passierte, sondern es einfach ein guter Grundstein für eine Gruselgeschichte war und deswegen nun im ganzen Dorf bekannt ist», quasselt Nathalia vor sich hin, während sie sich immer wieder mal Stück Apfel in den Mund steckt.

«Aber wer ist denn die dritte Person, die starb?», frage ich nach ein paar Minuten. Alex und Nathalia blicken sich an, ohne etwas zu sagen.

«Alex du hast vorhin drei Personen erwähnt, wer ist die Dritte?», drängt Jessica und gestikuliert dabei mit ihren Händen. Alex bleibt stumm und blickt wieder zurück auf den See.

«Wir wissen es nicht. Es gibt Gerüchte, dass es eines der Kinder war, welches am Kindstod starb. Das wäre dann Liams Zwilling gewesen», antwortet mir Nathalia bedrückt.

«Sollten dann aber nicht drei Namen auf dem Grabstein der Familiengruft eingemeisselt sein?», frage ich in die Runde.

«Du warst auf dem Grundstück der Blackwoods?», fragt Alex, sichtlich geschockt über meine Frage. Die Vorstellung davon, auf dem Grundstück dieser Familie zu sein, scheint ihn wohl etwas zu ängstigen.

«Nein, nicht direkt. Ich war auf dem Friedhof und konnte einen kurzen Blick auf die Gruft werfen», antworte ich ihm, während ich mich auf den Rücken lege und in den blauen Himmel starre. Auch die anderen haben sich nun auf der Wiese ausgebreitet und blicken dem Himmel entgegen. Jessica hat ihr Buch ausgepackt und rollt sich auf den Bauch. Auf den Ellbogen abgestützt blättert sie eine Seite um. Ihre Füsse wippen in der Luft leicht hin und her. Sie wirkt völlig entspannt. Nathalia hat die Augen geschlossen und döst vor sich hin und Alex ist an seinem Telefon beschäftigt. Offenbar haben gerade alle genug vom Reden. Mir ist das ehrlichgesagt gerade recht. Diese Geschichte der Blackwoods hat in mir einen leichten Druck auf der Brust erzeugt. Ich fühle mich etwas unwohl und muss andauernd an diesen jungen Mann denken, der bedrückt vor seiner Familiengruft stand. Ich denke, jeder von uns kann sich glücklich schätzen, eine normale Familie zu haben, in der es kein Mord und Totschlag gibt.

Am späten Nachmittag machen wir uns alle wieder auf den Heimweg.

«Also dann, bis morgen!», rufen uns Nathalia und Alex zu und fahren die Strasse weiter gerade aus, während Jessica und ich an unserem Haus mit den Fahrrädern halten. Oben in der Wohnung angekommen, wirft Jessica ihre Tasche auf den Boden und bewegt sich geradeaus auf den Kühlschrank zu. Während sie Gemüse schneidet und einen Topf Wasser auf dem Herd vorbereitet, fragt sie mich leise: «Glaubst du an diese Geschichte?»

Ich muss kurz überlegen, was ich antworten soll. Eigentlich würde ich gerne mit «Nein» antworten, aber irgendetwas hält mich davon ab. Vielleicht liegt es daran, dass ich die Inschriften auf dem Grabstein gesehen habe.

«Ich weiss es nicht», antworte ich ihr schliesslich mit einem Seufzen. Ich nehme zwei Gläser heraus und schenke uns jeweils ein Glas Weisswein ein. «Irgendwie glaube ich daran und irgendwie auch nicht.»

«Ich finde das ganze wirklich unheimlich. Insbesondere weil ich weiss, dass dieses Haus nicht weit von hier entfernt ist», antwortet Jessica mir. Ich stimme ihr brummend zu und nippe an meinem Glas. Der Wein schmeckt köstlich. Er ist fruchtig süss und eiskalt. Jessica und ich trinken grundsätzlich nicht viel Alkohol, aber wir haben gerne ein Glas Wein zum Essen. Harten Alkohol würden wir uns aber nicht einfach so kaufen. Dann müsste schon ein spezieller Anlass anstehen, damit eine solche Flasche in unseren Einkaufswagen kommt.

«Ich frage mich, warum Liam wieder da ist. Ich glaube, ich persönlich würde einen solchen Ort meiden, wenn es irgendwie möglich ist», murmle ich leise.

Ich fühle mich, als hätte ich keine Sekunde geschlafen. Naja, habe ich ja auch nicht. Diese Geistergeschichte raubte mir den Schlaf, weswegen ich nun dunkle Ringe unter den Augen habe. Meine Haare sind ein einziges Chaos und stehen in alle Richtungen ab.

Der Weg in die Schule kommt mir heute viel länger vor als üblich. Der Himmel ist bewölkt und ein kühler Wind weht durch das Dorf. Jessica und ich haben heute noch nicht viel miteinander geredet. Das ist eigentlich keine Seltenheit am Morgen, weil ich dann grundsätzlich schlecht gelaunt bin. Aber heute ist es anders. Wir fahren beide mit dem Blick starr auf den Weg gerichtet den Hügel hinauf. Ob Jessica auch an die Geschichte von gestern denkt?

Im Schulzimmer angekommen, setzen wir uns auf unsere Plätze und warten, bis der Dozent seine Vorlesung beginnt. Doch auch nach zwanzig Minuten ist die Tafel noch leer und weit und breit nichts zu sehen von Herr Hato.

«Schon etwas unhöflich, zu spät zu kommen und nicht Bescheid zu sagen», flüstert mir Jessica genervt zu.

«Vielleicht musste er sich noch das Näschen pudern für die erste Stunde», antworte ich ihr grinsend und wir beginnen beide zu kichern. In diesem Moment öffnet sich die Tür und Herr Hato betritt den Saal, gefolgt von einem jungen Mann. Liam Blackwood bleibt vor der Tafel stehen, sein Blick ist leer.

«Guten Morgen. Das ist Liam Blackwood. Er wird ebenfalls hier studieren und wurde Ihrer Klasse zugeteilt. Bitte suchen Sie sich einen freien Platz», beginnt Herr Hato zu erklären und deutet Liam auf einen der Plätze. Liam geht den Mittelgang zwischen den Tischen nach hinten und lässt sich in der hintersten Reihe nieder.

«Hast du seine Knöchel gesehen?», flüstert mir Jessica zu. Allerdings, das habe ich. Sie sind aufgeplatzt und wund.

«Sieht so aus als hätte er sich geprügelt», antworte ich ihr leise. Ich blicke mich um und sehe geradewegs in seine Augen. Er hat mich mit seinem Blick fixiert. Leicht erschrocken und ertappt drehe ich meinen Kopf blitzschnell nach vorne. Jessica neben mir hat schon eifrig begonnen ihre Notizen auf Papier zu bringen und folgt aufmerksam dem Unterricht, während sich meine Gedanken immer noch um diese roten Knöchel und seine eisblauen Augen drehen.

Beim Mittagessen sitzen Jessica, Nathalia, Alex und ich wieder an unserem üblichen Stammtisch. Heute gibt es Kartoffelstock mit Rindsvoressen und Gemüse. Ich liebe Kartoffelstock. Wäre ich nicht zu faul, dies selbst zu kochen, würde ich es öfter essen.

«Wie war eure erste Vorlesung?», fragt Jessica neugierig in die Runde.

«Interessant langweilig. Unser Dozent ist meiner Meinung nach viel zu alt und hätte sich schon längst pensionieren lassen sollen. Aber auf mich hört ja niemand», antwortet Alex gelangweilt und stochert in seinem Essen herum.

«Er wusste nicht einmal, wie man einen neuen Tab im Browser öffnet. Wir mussten ihm alles erklären», ergänzt Nathalia grimmig. Ich folge der Konversation nur spärlich und blicke mich in der Mensa um. Nicht weit von unserem Tisch entfernt sitzt Liam allein auf einer Bank und liest. Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, erhebe ich mich und bewege mich auf die einsam wirkende Gestalt zu. Ich bemerke, wie es plötzlich still um mich herum wird und spüre verschiedene Blicke auf meinem Rücken. Liam sitzt auf der gepolsterten Holzbank, ein Bein über sein anderes gelegt und ist tief in den Sitz hineingerutscht.

«Bin ich froh, dass ich nicht die einzige Person auf dieser Welt bin, die diese Novelle gut findet», spreche ich Liam an, den Blick auf das kleine gelbe Büchlein gerichtet. Seine Brust hebt sich stark, dann lässt er die Luft schnell aus seinen Lungen austreten. Es klingt schon fast so, als würde er sich über meine Bemerkung lustig machen.

«Kann ich dir irgendwie helfen?», antwortet er mir, ohne mich anzusehen.

«Ich habe gesehen, dass du allein sitzt und dachte, du hättest vielleicht gerne Gesellschaft. Du könntest dich an unseren Tisch setzen, wenn du magst», antworte ich ihm, ohne auf seinen Tonfall einzugehen.

«Wenn ich nicht allein sein wollen würde, würden hier noch mehrere Personen sitzen. Da dies aber nicht der Fall ist, kannst du davon ausgehen, dass ich kein Interesse an dem Kontakt mit anderen Menschen habe.»

«Ein einfaches ‹Nein, danke› hätte mir gereicht», entgegne ich ihm scharf, mache auf dem Absatz kehrt und gehe zurück zu den Anderen. Wieso müssen attraktive Männer immer solche arroganten Säcke sein?

Am Abend sitzen Jessica und ich zusammen beim Abendessen an unserem Tisch. Wir hatten keine Lust zu kochen und haben deswegen nur Brot mit Käse und Aufschnitt aufgetischt. Jessica sitzt mir gegenüber und starrt in den Bildschirm ihres Laptops. Den Teller hat sie etwas zur Seite geschoben, damit sie mehr Platz hat.

«Ach nee», jammert sie und rutscht tiefer in ihren Stuhl hinein. «Hast du gesehen, dass wir eine Gruppenarbeit machen müssen bei Herr Hato?»

«Nein. Kam eine Mail dazu?», antworte ich ihr schnell.

«Ja, gerade eben. Die Gruppeneinteilung wurde bereits gemacht. Ich bin mit Nathalia zusammen und du…», bricht Jessica den Satz kleinlaut ab und sieht mich über den Bildschirmrand an. «Du bist mit Liam in einer Gruppe.» Ich verschlucke mich bei ihren Worten an meinem Stück Brot und muss deswegen laut husten. Das kann doch nicht wahr sein.

«War ja klar», antworte ich seufzend und verberge mein Gesicht in meinen Händen. «Wenn er noch einmal unfreundlich zu mir ist, kann er was erleben. Wir müssen uns nicht mögen, aber ich finde, er kann mir den nötigen Respekt erweisen, den ich verdient habe. So wie ich ihn respektiere. Dieser arrogante Kerl muss gar nicht meinen, sich für etwas Besseres zu halten», erkläre ich mit scharfem Ton.

«Ganz ruhig Tiger», neckt mich Jessica mit einem Grinsen im Gesicht. Genau wegen solchen Kommentaren liebe ich sie. Wir blicken uns in die Augen und versuchen unser Lachen zu verkneifen, bis wir plötzlich los prusten und unser Bauch vor lauter Lachen weh tut.

Auf dem Weg ins Klassenzimmer schwindet meine Motivation und gute Laune mit jedem Schritt ein Stück mehr. Liam sitzt bereits an einem Tisch am Fenster und starrt in den Garten hinaus. Vor den Fenstern wachsen rote Rosen nach oben. Ihre Blüten leuchten im Schein der Sonne. Hier im hinteren Teil des Gebäudes befinden wir uns auf der Schwelle zwischen dem dunklen Gestein des Berges und der hellen blühenden Welt, welche das Anwesen umgibt. Liam trägt eine schwarze Jeans und ein gleichfarbiges T-Shirt. Ich bleibe kurz stehen und mustere ihn von Kopf bis Fuss. Obwohl er so unfreundlich war vor ein paar Tagen, fasziniert mich irgendetwas an dieser Person. Jessica gibt mir mit ihrem Ellbogen einen leichten Stoss in die Rippen und befreit mich aus meiner Starre.

«Vielleicht wird es gar nicht so schlimm, wie du dir das vorstellst», versucht sie mich aufzumuntern. Ich seufze und straffe die Schultern.

«Kann sein», antworte ich ihr, während ich auf den freien Platz neben Liam zusteuere. «Ich sehe dich dann später.»

Ich lasse mich auf den leeren Holzstuhl nieder und nehme meinen Laptop aus dem Rucksack. Liam dreht langsam den Kopf in meine Richtung und mustert mich. Er öffnet den Mund, schliesst ihn aber gleich wieder ohne etwas zu sagen.

«Guten Morgen», begrüsse ich ihn nun und versuche dabei, mein Lächeln möglichst natürlich zu gestalten. Leider konnte ich meine Emotionen noch nie gut verstecken und jeder kann an meinem Gesicht ablesen, wie es mir gerade geht. Liam dreht den Kopf wieder nach vorne, ohne etwas zu erwidern. Okay, dann eben nicht.

Die Stunde verläuft genau gleich weiter, wie sie begonnen hat. Ruhig und ohne jegliche Konversation. Als uns der Dozent in den Mittag entlässt, spricht mich Liam an: «Wir können heute Nachmittag bei mir arbeiten.» Mir fällt die Kinnlade runter. Mit dem hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich muss mich kurz räuspern, bevor ich antworten kann.

«Okay, wenn das für deine Familie in Ordnung ist.»

«Ich habe keine Familie», antwortet mir Liam monoton, schultert seinen Rucksack und verlässt den Raum. Na grossartig, voll ins Fettnäpfchen getreten.

Nach dem Mittagessen stehe ich vor dem grossen Herrenhaus. Die Sonne scheint auf das Anwesen und lässt den Teich glitzern und das Gebäude nur noch halb so gruselig aussehen. Ich trete durch das Eisentor, welches mit einem lauten grässlichen quietschen sich hinter mir wieder schliesst. Der Weg zur Haustür ist mit Blumenbeeten geschmückt und Bienen surren mir um den Kopf herum, welche schliesslich auf den hellen Blüten absitzen und den Nektar aussaugen. Vor dem Anwesen gehe ich die paar Treppenstufen auf die Veranda nach oben und bleibe vor der massiven Tür stehen. Sie sieht aus wie eine riesige Schieferplatte und viel zu schwer, um sie allein aufzustossen. Noch bevor ich die Klingel drücken kann, öffnet sich die Tür.

«Hallo Victoria», begrüsst mich Liam mit einem Lächeln. «Komm doch rein. Wir können in der Bibliothek arbeiten.» Ich betrete das grosse Gebäude und mustere ihn prüfend. Seltsam, wo ist seine Arroganz geblieben?

«Danke. Bist du allein?», frage ich vorsichtig.

«Nein, meine Tante ist im Büro. Aber wir werden sie wohl kaum sehen. Sie ist grundsätzlich immer beschäftigt», antwortet mir Liam, während er vor mir her geht.

Die Eingangshalle ist riesig und ähnelt einem Ballsaal. Der Boden ist aus dunklem Marmor und die Wände aus Ebenholz. Eigentlich ist alles dunkel hier. Auf der rechen Seite führt eine breite Treppe nach oben in eine Galerie. Die Flure führen links und rechts voneinander weg, aber in der Mitte ragt eine grosse Doppeltüre hervor. Was wohl dahinter liegt? Unter der Galerie befindet sich einen Torbogen, welcher die Eingangshalle mit einem grossen Wohnzimmer verbindet. Liam geht auf der linken Seite des Raumes auf eine smaragdgrüne Tür zu. Dahinter befindet sich die grösste Bibliothek, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Bücherregale erstrecken sich vom Boden bis zur Decke. Das helle Licht strömt durch die grosse Fensterfront auf die braun und gold verzierten Bücherregale und verleiht dem ganzen Raum einen magischen Touch. In der rechten Ecke befindet sich eine Wendeltreppe, die zu einer Art Balkon zu den oberen Bücherregalen führt. Dieser erstreckt sich über alle drei Wände und ermöglicht den Zugang zu jedem Buch in diesem Raum.

«Oh wow», murmle ich leise vor mich hin. Ich kann den Mund gar nicht mehr schliessen, so überwältigt bin ich von diesem Anblick. Nahe am Fenster steht ein grosser Tisch mit sechs Stühlen. Liam bewegt sich darauf zu und setzt sich. Ich trotte ein wenig hinter ihm her, muss mich aber nochmal um meine eigene Achse drehen, um wirklich jeden Winkel in diesem Raum inspizieren zu können.

«Gibt es hier nur Sachbücher oder auch Romane?», frage ich Liam.

«Diese Wand ist nur mit Romanen gefüllt», antwortet er mir mit ausgestreckter Hand zur linken Wand. «Der Rest sind glaub ich Sachbücher und Bücher gefüllt mit Gedichten. So genau weiss ich das nicht, ich habe schliesslich nicht alle gelesen.»

«Der Wahnsinn», murmle ich fasziniert. «Hier könnte ich für den Rest meines Lebens bleiben und mir wäre nie langweilig.»

«Du kannst dir gerne ein Buch aussuchen.»

«Wirklich?», frage ich Liam perplex. Das hier ist das absolute Paradies! In diesem Moment öffnet sich die zweite Tür im Raum und eine grosse, schlanke, elegant gekleidete Frau betritt den Raum. Ihr schwarzes Haar ist in ihrem Nacken zu einem tiefen Knoten zusammengebunden und ihre dichten, schwarzen Wimpern lassen ihre braunen Augen hervorstechen. Sie trägt ein königblaues Etuikleid und schwarze Pumps, die bei jedem Schritt einen lauten Hall in dem Raum wiedergeben.

«Ich wusste nicht, dass wir Besuch haben.»

«Das ist Victoria. Sie geht mit mir in eine Klasse», antwortet Liam ihr. Sein Gesichtsausdruck ist plötzlich wieder kalt und ausdruckslos.

«Freut mich sehr Sie kennenzulernen», erwidere ich und gehe einen Schritt auf die Dame zu. «Sie haben ein wunderschönes Haus.» Ich schüttle ihr die Hand. Sie ist eiskalt, weswegen ich nach der Begrüssung meine Finger etwas aneinander reibe.

«Vielen Dank. Warst du schon mal hier in Meeso?», antwortet sie mir.

«Nein, aber meine Mutter ist hier zur Schule gegangen.»

«Ach, wirklich? Wie heisst denn deine Mutter?»

«Amanda Ross», erwidere ich rasch und setze mich ebenfalls auf einen Stuhl.

«Interessant», antwortet die Frau leise und starrt vor sich auf den Boden. «Ich muss noch ein Telefonat machen. Hat mich gefreut dich kennen zu lernen.» Mit diesen Worten verlässt sie mit schnellen Schritten den Raum und schliesst die Tür hinter sich.

«Das ist meine Tante Evelyn. Ihr gehört dieses Haus», erklärt mir Liam.

«Sie ist nett.»

«Das ist Ansichtssache», antwortet er mir bitter. Gut, das ist wohl kein passendes Gesprächsthema.

Drei Stunden später brummt mir der Kopf. Wir sind alle möglichen Unterlagen mehrmals durchgegangen und haben uns alles aufgeschrieben, was irgendwie wichtig erschien. Nun müssen wir das nur noch in eine Reihenfolge bringen, damit wir unseren Aufsatz beginnen können.

«Machen wir für heute Schluss», seufze ich und verstaue meine Unterlagen in meinem Rucksack. «Den Rest können wir morgen in der Schule noch machen. Das sollte von der Zeit her reichen.» Liam stimmt mir zu und begleitet mich zur Haustür.

«Dann bis morgen.»

«Bis morgen», antworte ich ihm zaghaft. Wir blicken uns noch ein paar Sekunden in die Augen, bevor ich mich umdrehe und den Weg entlang gehe. Ich höre, wie die Tür hinter mir mit einem leisen Klack ins Schloss fällt. Beim Eisentor angekommen blicke ich mich nochmals um. Ich sehe zum Fenster im obersten Stock und kann gerade noch eine dunkle Gestalt erkennen, die den Vorhang zu zieht.

«Wo warst du so lange?», fragt mich Jessica neugierig, als ich gerade durch die Tür in die Küche trete. Sie sitzt am Tisch, auf dem sich mehrere Bücher türmen, und hat den Blick auf den Bildschirm ihres Laptops gerichtet.

«Bei Liam», antworte ich ihr und lasse mich erschöpft auf das Sofa fallen. Jessica hebt ruckartig den Kopf und sieht mich von der Seite mit hochgezogenen Augenbrauen an.

«Wegen der Gruppenarbeit», erkläre ich ihr schnell. «Hast du gewusst, dass Liam noch eine Tante hat? Ihr gehört das Haus.»

«Gewusst nicht, aber Alex hat mal etwas erwähnt.»

«War ja klar, dass Alex darüber Bescheid weiss», antworte ich Jessica schmunzelnd. «Ich bin in meinem Zimmer. Kochen wir in einer halben Stunde? Ich habe auf dem Weg noch Pouletfleisch und Paprika gekauft. Ich dachte, wir können Fajitas machen?»

«Perfekt», jubelt Jessica und klatscht vor Freude in die Hände.

In meinem Zimmer packe ich meinen Rucksack aus und lege meinen Laptop auf den Tisch. Ich sollte dringend aufräumen. Mein Zimmer ist nicht sonderlich gross, weswegen ein paar Kleider auf dem Boden gleich die grösstmögliche Unordnung bedeuten. Der Tisch steht gegenüber der Tür und auf der linken Seite füllt mein Bett die Hälfte des Zimmers aus. Das Fenster hinter dem Schreibtisch lässt die schwache Abendsonne auf meine Holzkommode strahlen. Meine Efeutute darauf wächst jeden Tag ein Stück mehr und hängt bereits auf der Seite des Möbelstücks herunter. Entweder muss ich sie kürzen oder der Wand entlang über das Bücherregal wachsen lassen. Das könnte noch hübsch aussehen. Dafür muss der Zweig aber noch etwas länger werden.

Ich sammle die paar Kleiderstücke auf dem Boden ein und werfe sie in den Wäschekorb im Badezimmer. Jessica höre ich bereits in der Küche hantieren. Da hat wohl jemand Hunger. Auf dem Weg in die Küche höre ich aus meinem Zimmer mein Telefon klingeln. Eilig haste ich zurück und schiebe mich durch die Tür.

«Hallo Mama», begrüsse ich meine Mutter am Telefon.

«Victoria, wie schön deine Stimme zu hören. Wie geht es dir? Wie läuft es in der Schule?»

«Gut. Wir haben unsere erste Gruppenarbeit. Meine Partnerwahl lässt jedoch zu wünschen übrig, aber das wird schon gut gehen.»

«Wieso? Magst du deinen Partner nicht?», fragt sie mich zaghaft.

«Doch schon, irgendwie. Er ist halt einfach speziell. Seine Laune ist manchmal etwas verwirrend», erkläre ich ihr und bewege mich in Richtung der leckeren Düfte aus der Küche. «Vermutlich ist er ganz nett. Aber er hatte sicher keine leichte Vergangenheit. Ich frage mich zwar, wie viel er davon noch weiss.»

«Wovon sprichst du?», fragt mich meine Mutter verwundert.

«Liams Tante gehört das Horrorhaus aus Meeso. Wieso hast du mir eigentlich nie davon erzählt? Du bist doch hier aufgewachsen?» Ich setze mich auf einen Barhocker in der Küche und beobachte Jessica dabei, wie sie etwas ungeschickt die Paprika in kleine Würfel schneidet.

«Evelyn ist also zurück im Dorf», murmelt meine Mutter leise vor sich hin. «Ich wollte dich nicht damit belästigen, Veronica. Es ist auch schon ewig her. Aber offenbar wird diese Horrorgeschichte immer noch im Dorf erzählt», erwidert meine Mutter leise. Jessica dreht sich um und nickt mir mit zusammengezogenen Augenbrauen zu.

«Meine Mutter», antworte ich Jessica flüsternd.

«Hallo Amanda!», ruft Jessica laut ins Telefon hinein, weswegen ich die Augen verdrehen muss.

«Du bist auf Lautsprecher Mama», antworte ich ins Telefon und lasse es auf der Küchenkombination liegen. In wenigen Schritten umkreise ich die Kücheninsel, greife nach einem Schneidebrett und Gemüsemesser und beginne in schnellen Bewegungen, den Lauch in grobe Ringe zu schneiden.

«Sind in dem Haus wirklich mehrere Menschen gestorben Amanda?», fragt Jessica neugierig. Natürlich muss sie das fragen. Vermutlich konnte sie es nicht abwarten, diese Frage meiner Mutter zu stellen, seit sie von dem Horrorhaus erfahren hat.

«Mama? Bist du noch da?», frage ich irritiert nach, weil keine Antwort aus dem Lautsprecher ertönt. Gerade als ich das Messer ablege und mein Telefon in die Hand nehme, höre ich die drei Töne, wenn jemand das Telefonat beendet.

«Sie hat einfach aufgelegt!», platze ich fassungslos heraus. «Ich verstehe ja, dass Mama dieser Ort sehr an Papa erinnert und dass es sie schmerzt, darüber zu sprechen. Aber sie muss doch nicht gleich eine solche Szene machen!»

«Glaubst du, der Tod deines Vaters hat etwas mit diesem Horrorhaus zu tun?»

«Nein, ich glaube nicht. Mein Vater ist bei einem Unfall gestorben.»

«Aber deine Mutter hat nie erzählt, was das für ein Unfall war, richtig?», hakt Jessica nach. In mir breitet sich ein beklemmendes Gefühl aus. Mein Puls schiesst in die Höhe und mein Herz fühlt sich an, als würde es mir gleich aus der Brust springen. Schwer atmend stütze ich mich an der Kücheninsel ab.

«Komm, wir setzen uns aufs Sofa», erwidert Jessica und führt mich langsam aus der Küche. Die Welt dreht sich und ich habe das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Ich hasse meine Kreislaufstörungen.

«Ich bringe dir ein Glas Wasser.»

«Danke», hauche ich leise, bevor ich die Augen schliesse und die Welt um mich herum schwarz wird.

«Aufwachen Victoria», höre ich eine dumpfe Stimme über mir sagen. Ich öffne langsam die Augen und sehe leicht verschwommen eine Gestalt über mir.

«Was ist passiert?», flüstere ich leise.

«Endlich bist du wach! Eine kurze Zeit hatte ich furchtbare Angst um dich», antwortet mir Jessica aufgebracht. Sie sitzt vor mir im Schneidersitz auf dem Boden und rechts von ihr Nathalia. Alex steht am anderen Ende des Sofas und betrachtet mich forschend.

«Was macht ihr denn hier?», frage ich irritiert und setze mich auf.

«Jessica hat uns panisch angerufen und uns um Hilfe gebeten. Du bist anscheinend aufs Sofa gelegen und einfach nicht mehr aufgewacht», beantwortet mir Nathalia meine Frage.

«Ich dachte du seist tot!», schreit Jessica mich an und fällt mir um den Hals.

«So schnell stirbt doch niemand», erwidere ich irritiert. «Und schon gar nicht in unserem Alter.» Alex reicht mir ein Glas Wasser und ich trinke einen grossen Schluck der kalten Flüssigkeit.

«Das ist mir schon seit einer Ewigkeit nicht mehr passiert», murmle ich vor mich hin. Jessica setzt sich neben mich aufs Sofa. Ihre Haare sind ein einziges Chaos und trotzdem sieht sie verheult und zerzaust immer noch wunderschön aus.

«Ihr habt aber nicht meiner Mutter Bescheid gegeben, oder?», frage ich zögernd. Bei dem Gedanken, dass meine Mutter nun auch noch panisch ins Zimmer stürzt, wird mir gleich wieder etwas schwindlig.

«Nein. Ein nervöses Wrack in diesen vier Wänden reicht», antwortet mir Jessica. Gut, damit hat sie wohl nicht mich gemeint. Ich trinke nochmals einen Schluck Wasser und bemerke die drückende Stimmung im Raum. Was ist hier los?

«Habe ich etwas verpasst?», frage ich irritiert und blicke einen nach dem anderen an. Alex und Nathalie drehen beide den Kopf in Richtung Jessica. Nun fallen mir die leuchtenden Augen von Alex auf. Jetzt wird mir alles klar und seufze laut.

«Du hast ihnen erzählt das ich bei Liam zu Hause war», blaffe ich Jessica an.

«Ich konnte nicht anders!», versucht sich Jessica zu rechtfertigen. «Alex hat mich dazu gezwungen!»

«Das ist doch jetzt nicht wichtig!», mischt sich Alex ein. «Nun erzähl schon Victoria.» Dieser unglaublich neugierige Mann schaufelt sich irgendwann noch sein Grab, wenn er seine Nase weiterhin überall hineinsteckt. Das kann böse enden. Ich merke, dass ich hier wohl nicht weg kann, bis ich die gierigen Geier gefüttert habe. Dabei mag ich das eigentlich gar nicht, so viel über Liam zu erzählen. Ich fühle mich, als würde ich ihn hintergehen. Denn er ist eigentlich ganz nett. Vielleicht nicht extrem nett, aber er ist definitiv nicht so, wie ihn alle beschreiben. Ich blicke nochmals in die drei aufgeregten Gesichter und verdrehe die Augen.

«Na schön, von mir aus!», gebe ich mich geschlagen und beginne die Geschichte von Anfang an zu erzählen.

Kapitel 3

Liam

Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich eigentlich hier bin. Lieber wäre ich in der Stadt, weit weg von diesem düsteren Haus. Ich verstehe gar nicht, warum Evelyn wieder hier her zurückkommen wollte. Würde mir dieses Haus gehören, hätte ich es längst verkauft und mir mit dem Erlös weit weg ein neues Zuhause gebaut. Aber mich fragt ja niemand. Weder was ich will, noch was ich denke oder fühle. Vermutlich könnte ich tot umfallen und Evelyn würde mich erst zwei Tage später bemerken. Wenn mein Leichnam bereits zu stinken und verwesen beginnt.

«Ist irgendetwas?», fragt sie mich genervt, weil sie gemerkt hat, dass ich sie beobachte. Wir sitzen uns an dem grossen Tisch gegenüber und essen ein zartes Stück Rindfleisch mit Salat. Der Tisch hat Platz für acht Gäste und trotzdem sitzen wir mit der grösstmöglichen Distanz zwischen uns hier. Vermutlich weil wir uns hier zu Hause nicht zwingendermassen einander nähern müssen.

«Was sollte den sein?», blaffe ich zurück, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

«Etwas mehr Respekt junger Mann», höre ich eine raue Stimme hinter mir sagen. Evelyns Liebhaber Robert geht an mir vorbei und nimmt neben ihr Platz. Er ist ein grossgewachsener muskulöser Mann, der meiner Meinung nach mehr Muskeln als Gehirn hat. Mit dem Umzug zurück nach Meeso hat sich dieser Parasit hier eingenistet und wird wohl nicht mehr so schnell gehen. Immerhin trägt er sein Willkommensgeschenk von mir. Ein hübsches Veilchen unter seinem Auge.

«Ich gehe auf mein Zimmer. Mir ist es hier etwas zu harmonisch», antworte ich den beiden und erhebe mich langsam. Evelyn beachtet mich dabei kein bisschen und trinkt einen grossen Schluck von ihrem Rotwein. Wieso sollte sie auch? Sie sieht mich grundsätzlich nie an. Robert hingegen betrachtet mich missbilligend. Soll er doch, wenn es ihm Spass macht.

Ich mache auf dem Absatz kehrt und verschwinde durch den Torbogen auf der linken Seite. Das Esszimmer liegt im hinteren Bereich des Gebäudes. Ich durchquere das grosse Wohnzimmer und gehe in schnellen Schritten in die Eingangshalle. Dieses riesige Haus macht mich wahnsinnig. Ich steige die Treppe hinauf in den oberen Stock und biege in den linken Gang ein. Jeder Gang hier sieht gleich aus. Dunkel, düster und leer. Mein Zimmer befindet sich über der Bibliothek, auf der linken Seite des Gebäudes. Es ist eher schlicht eingerichtet, weil ich Unordnung verabscheue. Ich habe schon genug Chaos in meinem Kopf und meinem Leben, dann brauche ich es nicht auch noch in meinem Zimmer. Ich setze mich auf das dunkelblaue Sofa vor der grossen Fensterfront und blicke auf den Friedhof hinunter. Im Schein der Laterne wirken die paar Grabsteine etwas unheimlich. Normalerweise mag ich die Dunkelheit sehr. Ich fühle mich wohl in ihr. Aber heute ist dies nicht der Fall. Heute fühle ich Garnichts, ausser einer grossen Leere in mir. Ich lasse meinen Kopf nach hinten fallen und starre an die weisse Decke. Es ist einfach absolut beschissen hier. Ich glaube, ich brauche jetzt einen Drink.

Kurz entschlossen stehe ich auf, streife mir meine schwarze Lederjacke über und verlasse eilig das Haus. Evelyn sage ich nicht Bescheid. Aber ihr wird es sowieso nicht auffallen, dass ich weg bin. Der kühle Wind fühlt sich angenehm auf der Haut an und lässt mich wieder klar denken. Es ist schon elf Uhr und die meisten Bewohner sind bereits in ihren Häusern. Um diese Uhrzeit hat nur noch eine einzige Bar offen. Sie befindet sich am Ende der Hauptstrasse. Dahinter erstrecken sich die grossen Rapsfelder und weit hinten ragt das riesige Schulgebäude empor. Ich gehe die leere Strasse entlang und erreiche nach nur wenigen Minuten die Bar. Ohne mich gross umzublicken, betrete ich den düsteren Raum und gehe geradewegs auf die Theke zu. Ich bestelle mir einen Whisky und trinke das Glas in einem Zug aus. Der Barkeeperin nicke ich zu und stelle ihr das Glas wieder auf den Tresen. Sie betrachtet mich eine Sekunde lang und schenkt mir ein zweites Mal ein. Auch dieses Glas leere ich in einem Bruchteil einer Sekunde. Meine Kehle brennt, doch dies ist mir egal. Es ist das einzige Gefühl, welches meinen Körper erreicht und mich lebendig fühlen lässt. Wenn auch nur für eine kurze Zeit. Gerade als ich mich umdrehen und mich in dem halbleeren Raum umsehen möchte, rempelt mich jemand von der Seite an. Ich kann nur noch im Augenwinkel ihre roten Zapfenlocken erkennen, als sie sich zu einem Tisch mit drei weiteren Personen setzt.

Victoria

«Ich dachte schon du bist auf der Toilette eingeschlafen!», lallt Nathalia neben mir und grinst Jessica an.

«Als ob!», antwortet Jessica empört und rückt ihr Kleid zurecht. Nachdem ich den anderen von meinem Aufenthalt im Horrorhaus erzählt habe, war Alex der Meinung, dass wir nun alle einen Drink vertragen könnten. Weil mein Kreislauf aber immer noch etwas schwach ist, habe ich mich heute Abend etwas zurückgehalten. Aber so wies aussieht, trinkt Jessica die Drinks für mich. Mit dieser Menge Alkohol im Blut müsste man mich unter dem Tisch zusammenlesen. Aber Jessica verträgt schliesslich das Dreifache.

Auch Alex gesellt sich wieder zu uns an den Tisch mit zwei grossen Cocktails in der Hand. «Voilà Madame. Einen Daiquiri für dich, einen Sex on the beach für mich», verkündet er fröhlich und schiebt Nathalia das Glas zu. Die beiden stossen mit einem lauten Ausruf zusammen an und nehmen einen grossen Schluck aus ihren Kelchen. Gerade als ich sie darauf ansprechen möchte, werde ich von einer rauen Stimme unterbrochen.

«Eine Entschuldigung wäre ganz nett gewesen», ertönt es hinter Jessica. Ich hebe den Blick und erkenne zuerst nur eine dunkle Gestalt. Hier ist es wirklich viel zu dunkel. Doch die Person kommt einen Schritt in unsere Richtung und der Schein der schwachen Lampe fällt in sein Gesicht. Liam hat den Blick auf Jessica gerichtet. Verwirrt schaue ich zwischen den beiden hin und her. Jessica hingegen scheint seine schlechte Laune entgangen zu sein.

«Ich habe dich etwas gestreift vorhin. Jetzt mach mal nicht so ein Theater», antwortet sie ihm unbeeindruckt. Als er laut ausatmet dreht Jessica den Kopf zu ihm um. «Na schön es tut mir leid. Geht’s dir jetzt besser?»

«Beste Freunde werden sie wohl nicht», flüstert mir Alex zu und blickt zwischen den beiden Pit Bulls hin und her. Gut, irgendwer muss diese Spannung zwischen den beiden auflösen.

«Wie wäre es, wenn du ihm ein Bier spendierst, und ihr vergisst das Ganze?», schlage ich den beiden vor und bete dabei, dass sie meinen Vorschlag akzeptieren. Jessica verdreht die Augen, rutscht aber auf der Bank näher zu Nathalia heran, damit Liam Platz nehmen kann. Dieser hingegen kämpft offenbar noch mit sich selbst.

«Wir beissen auch nicht», unterstützt mich Nathalia und blickt Liam mit ihren Rehaugen von der Seite an. Ein Wunder das sie nicht zu sabbern beginnt. Bei diesem Gedanken muss ich mir ein Grinsen verkneifen.

«Na schön», antwortet Liam schliesslich und setzt sich. Sein leeres Whiskeyglas stellt er auf dem Tisch ab. «Aber ich trinke kein Bier.»

«Sondern?», blafft Jessica ihn an. Sofort tadle ich sie mit meinem Blick und hoffe, dass sie dies in ihrem betrunkenen Zustand aufnehmen kann.

«Whiskey», antwortet Liam ihr knapp.

Seit Liam Platz genommen hat ist die Stimmung eher bedrückend als fröhlich. Zu meinem Erstaunen ist es aber Liam, der das Eis bricht: «Tut mir leid, wenn ich unhöflich war. Es war ein beschissener Tag heute.»

Wir alle blicken uns etwas verlegen an, während Liam sein Blick starr auf sein Glas gerichtet hat.

«Möchtest du darüber reden?», frage ich zögernd, weil ich mir nicht sicher bin, ob diese Frage gestattet ist. Schliesslich sind wir eher Bekannte als Freunde. Es scheint, als müsse er kurz überlegen, was er will.

«Nicht wirklich», antwortet er und kippt sein Glas herunter.

Alex ist in der Zwischenzeit mit einer jungen Gruppe von Männern verschwunden und seither nicht wiedergekommen. Ich sehe ihn aber in der Ecke mit vier Typen lachen, weswegen ich schon etwas beruhigter bin. Auch Jessica und Nathalia haben den Tisch gewechselt und sitzen ein paar Meter entfernt von uns. Ihrem Gekicher nach zu urteilen, unterhalten sie sich über ihren nächstmöglichen One-Night-Stand. In der letzten Stunde hat sich die Bar gut gefüllt, was wirklich eigenartig ist für einen Ort wie diesen.

«Was ist dein Lieblingsbuch?», frage ich Liam, damit wir wenigstens ein bisschen Konversation führen.

«Der Da Vinci Code», beantwortet mir Liam meine Frage. Bei diesen Worten muss ich schmunzeln, was ihm auffällt. «Was ist?»

«Nichts», antworte ich ihm lachend. «Es überrascht mich nur nicht.»

«Hast du es gelesen?»

«Ja, zwei Mal», erwidere ich stolz. Es kommt selten vor, dass ich ein Buch zwei Mal lese. Gerade als ich etwas ergänzen möchte, erhebt sich Liam.

«Ich werde jetzt nach Hause gehen. Wir sehen uns.» Noch bevor ich irgendetwas erwidern kann, dreht er sich um und verschwindet. Ich versteh den Typen einfach nicht. Seufzend rutsche ich tiefer in den Sitz hinein. Mit einem Blick auf die Uhr wird mir bewusst, wie spät es eigentlich ist. Träge erhebe ich mich und bewege mich Richtung Jessica und Nathalia.

«Wo ist denn dein Lover?», lallt Nathalia.

«Nach Hause gegangen. Das machen wir jetzt auch», antworte ich den beiden. «Und er ist nicht mein Lover.» Jessica und Nathalia grinsen sich an, scheinen aber auch der Meinung zu sein, dass es nun besser ist ins Bett zu gehen. Zum Glück, ich bin wirklich total müde.

Als wir Zuhause ankommen ist es bereits drei Uhr früh. Zum Glück haben wir morgen keine Schule. Jessica tapst langsam in die Küche. Zuerst höre ich wie der Wasserhahn aufgedreht wird, danach wie sich der Kühlschrank öffnet.

«Willst du auch noch was zu essen?», höre ich sie aus der Küche rufen. Kurz muss ich überlegen. Doch dann entscheide ich mich für mein Bett.

«Nein danke, ich gehe gleich schlafen», antworte ich ihr und schliesse meine Zimmertür hinter mir. In meinem Pyjama eingekuschelt unter der Decke starre ich aus dem Fenster. Der Mond scheint hell und erleuchtet mein Zimmer wie eine Laterne. Ich würde gerne immer so einschlafen, nur bevorzugt mein Körper ein stockdunkles Zimmer ohne einen einzigen Lichtstrahl. Etwas genervt, weil ich nochmals aufstehen muss, trete ich an das Fenster heran und beginne den Rollladen herunterzulassen.

In diesem Moment sehe ich das Display meines Telefons aufleuchten. Eine SMS einer unbekannten Nummer ist eingegangen. Mit runzelnder Stirn öffne ich die Nachricht.

Sorry für meinen abrupten Abschied vorhin.

Etwas verwirrt runzle ich die Stirn. Plötzlich dämmert es mir, dass dies Liam sein muss. Woher hat er meine Nummer? Eigentlich möchte ich nur zurück in mein Bett und tief und fest schlafen, aber meine Finger sind schneller und tippen ihm eine Antwort.

Kein Problem. Ich hoffe dein Tag hat sich trotz allem noch zum Guten gewendet.

Ich krieche zurück unter die Decke und sehe erneut das Display aufleuchten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mit Liam jemals ein längeres privates Gespräch führen würde.

Nicht unbedingt. Aber er ist auch nicht schlechter geworden. Gute Nacht Victoria.

Mit einem Lächeln im Gesicht beschliesse ich nun auch schlafen zu gehen und lege mein Telefon auf die Kommode neben meinem Bett. Dabei fällt mir ein, dass ich morgen dringend meine Mutter zur Rede stellen muss bezüglich meines Vaters. Sie kann mir nicht ewig ausweichen.

Jessica und ich sind uns einig, dass wir heute auswärts Frühstücken. Frische Brötchen, Rührei mit Speck und saftige Früchte. Am liebsten hätte ich einen solch gedeckten Tisch jeden Morgen, doch leider fehlt mir das Geld dazu. Jessica stöhnt leise, während sie den ersten Bissen ihres Lachsbrötchens nimmt. Ich sehe ihr grinsend zu. Sie scheint im siebten Himmel zu sein.

«In einer Stunde fährt der Bus. Soll ich meiner Mutter Bescheid sagen, dass wir kommen?», frage ich Jessica etwas unsicher. Wir haben uns heute morgen ausgiebig darüber unterhalten, wie ich meine Mutter zur Rede stellen kann. Uns war schnell klar, dass eine persönliche Konversation vermutlich am effektivsten ist.

«Nein besser nicht. Sonst verschwindet sie vielleicht noch.»

«Hm, ja das kann gut sein», antworte ich ihr lachend. Wir verputzen den Rest unseres Frühstücks in Rekordgeschwindigkeit und machen uns anschliessend auf den Weg zur Bushaltestelle. Diese liegt nicht weit von unserem Haus entfernt. Wir spazieren die schmale Strasse entlang und biegen im Dorfkern rechts ab. Die Kirche auf dem kleinen Platz ist eine der wenigen in der Umgebung, welche noch aus dem zwölften Jahrhundert stammt. Mir hat die gotische Baukunst schon immer gefallen. Alles sieht etwas düster und edel aus, aber nicht auf die kitschige Art und Weise. Die Bushaltestelle befindet sich direkt vor dem Eingang der Kirche. Ihre grossen Tore stehen offen und lassen einen raschen Blick in ihr inneres gewähren. Doch viel Zeit bleibt mir nicht. Nach wenigen Minuten fährt der Bus vor und wir steigen ein.

«Wenn wir heute schon in der Stadt sind», beginnt Jessica langsam, «können wir dann kurz bei James im Coffeshop vorbeisehen?»

Ich drehe meinen Kopf zu ihr und grinse breit. «Ich dachte du wolltest die Sache zwischen euch beenden?»

«Jaa», seufzt Jessica tief, «wollte ich eigentlich auch. Aber er sieht einfach zu gut aus.»

Ich verdrehe die Augen, stimme ihr aber brummend zu.

Die Busfahrt dauert etwa vierzig Minuten, bis wir im Zentrum der Stadt ankommen. Wie ich die belebten Strassen und die vielen Menschen vermisst habe. Jessica und ich sind aber nicht nur wegen meiner Mutter hier. Wir wollen uns eine Bar in unserer Wohnung einrichten und sind deswegen auf der Suche nach schönen Cocktailgläsern.

«Ich will unbedingt eine Whiskykaraffe», beginne ich mit leuchtenden Augen zu erzählen. «Weisst du, so eine mit verziertem Glas und spitzem Verschluss.»

«Du trinkst doch gar kein Whisky?», antwortet mir Jessica mit hochgezogenen Augenbrauen.

«Na und? Vielleicht fange ich damit an, wenn wir erst mal die richtige Ausstattung haben», erwidere ich trotzig, weswegen Jessica laut zu lachen beginnt.

Nach zwei Stunden intensiver Suche und mit mehreren Taschen beladen, betreten wir den Coffeshop in der Altstadt. James steht hinter dem Tresen und sieht wie immer absolut hinreissend aus. Seine blonden Haare sind etwas zerzaust, was ihn gleich noch attraktiver macht. Ich weiss schon, was Jessica an ihm findet.

«Jessica», begrüsst James sie mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Er tritt hinter dem Tresen hervor und küsst sie leidenschaftlich. «Wieso hast du nicht geschrieben, dass du kommst?»

«War eine spontane Idee», antwortet sie ihm. Ihre Wangen sind leicht gerötet. «Du erinnerst dich doch noch an Victoria.»

«Klar», antwortet James und umarmt mich kurz. «Wie geht es dir, Victoria?»

«Gut, danke und selbst?»

«Könnte nicht besser sein. Wollt ihr einen Kaffee?»

«Gerne zwei Cappuccinos», antwortet Jessica ihm und wir lassen uns in einer Sitzecke nieder. Das Café ist sehr rustikal eingerichtet. Die Tische sind aus Holz und die Sessel und Bänke mit weichem dunkelgrünem Samt überzogen. Von der Decke hangen verschiedene Pflanzen, die sich den Wänden und Möbeln herunterschlängeln. Die Lampen sind einzelne Glühbirnen, welche mit Stahl eingefasst sind, wodurch sich die Form eines Diamanten bildet. Der Boden besteht aus weissen und schwarzen Plättchen und erinnert eher an ein Badezimmer als an einen gemütliche Ort zum Kaffee trinken. Doch das Gesamtbild ist es schlussendlich, was diesen Ort so besonders macht.

James kommt mit zwei grossen Tassen zu uns an den Tisch und stellt sie vor uns hin. Dann setzt er sich neben Jessica auf die Bank und legt seinen Arm um sie.

«Was treibt euch denn hier her? Ist es euch zu langweilig geworden auf dem Land?», fragt er grinsend.

«Von wegen», antwortet ihm Jessica schnaubend.

«Wir möchten uns eine Bar Zuhause einrichten und brauchten noch Gläser und das nötige Zubehör», erkläre ich.

«Und wie du siehst, sind wir fündig geworden», ergänzt Jessica mit strahlenden Augen und deutet auf die vielen Taschen.

«Sieht nach einem erfolgreichen Tag aus. Wann darf ich vorbeikommen?»

«Nicht heute», antwortet Jessica ihm grinsend. Das ist typisch Jessica. Sie würde für einen Typen zwei Stunden Fahrt auf sich nehmen, um in sein Bett zu steigen. Aber sie nimmt nie einen mit nach Hause. Vermutlich weil es ihr wichtig ist, eine sichere Zone zu haben, in der Beziehungsstress keinen Platz hat. Und wenn es auch nur für eine Nacht wäre.

In diesem Moment kommen lachend zwei junge Frauen in den Laden. Als sie uns entdecken winkt die eine uns zu und James erwidert die Geste ebenfalls mit einer Handbewegung.

«Das ist Mira. Sie arbeitet zwischendurch hier», erklärt er uns schnell, wobei die Information wohl eher für Jessica gedacht ist, wie es scheint.

«Sie ist hübsch», antwortet sie ihm etwas trotzig. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, was James ebenfalls nicht entgeht. Jessica mag eine wunderbare Persönlichkeit haben in so vielen Hinsichten, doch was das Thema Eifersucht betrifft, ist sie der absolute Horror. Dabei trifft sie doch auch mehrere Typen gleichzeitig. Aber es ist wohl nicht das Gleiche, wenn zwei das Gleiche tun.

«Ja», stimmt ihr James zu. Dann rückt er etwas näher und flüstert «und lesbisch ist sie auch. Leider bin ich keine Frau.»

In diesem Moment tritt Mira zu uns an den Tisch. Die Erleichterung steht Jessica deutlich ins Gesicht geschrieben.

«Kann ich euch noch etwas bringen?», fragt sie in die Runde und lächelt fröhlich. Ihre honigblonden Locken fallen ihr locker über die Schultern. Sie ist eher klein und ein bisschen fester. Doch ihre eisblauen Augen strahlen und ihre Wangen sind leicht gerötet von der Kälte. Sie hat ein engelhaftes Gesicht.

«Nein danke», antworten Jessica und ich im Chor.

«Mira darf ich vorstellen, das sind Jessica und Victoria», antwortet ihr James und deutet dabei auf uns.

«Freut mich euch kennen zu lernen», begrüsst sie uns kurz und wendet sich wieder James zu «Ich bin kurz im Lager.» Damit ist sie auch schon wieder verschwunden.

«Kann es sein, dass sie an der Kunst und Design Hochschule studiert?», frage ich James neugierig. Jessica schüttelt den Kopf und ist offenbar etwas irritiert über meine Frage.

«Wie kommst du jetzt darauf?», fragt sie schliesslich verwundert. «Hast du sie schon mal gesehen?»

«Nein das nicht, aber als sie durch die Tür kam hatte sie eine Arbeitsmappe in der Hand, auf der das Logo der Schule zu sehen war.»

James beantwortet mir meine Frage mit einem deutlichen Nicken. «Sie ist im ersten Semester und ist erst gerade hierhergezogen», ergänzt er schnell, wobei ich gar nicht mehr richtig zuhöre. Ich weiss, dass Papa auch an dieser Schule war. Seine Gemälde hingen lange Zeit bei uns zu Hause, bis Mama sie irgendwann im Dachboden verstaute. Seit diesem Tag sind die Wände weiss.

Drei Stunden später stehen Jessica und ich vor dem Haus meiner Mutter. Die Herbstsonne scheint mit aller Kraft ihre letzten Strahlen auf die Erde. Die berüchtigte goldene Stunde. Die kleine Schaukel auf der Veranda wippt leise hin und her und die Blätter auf dem Boden wirbeln bei jedem Windstoss durcheinander.

«Sieht nicht so aus, als ob jemand zu Hause wäre», meint Jessica etwas skeptisch. Tatsächlich bin auch ich eher pessimistisch eingestellt. Meine Mutter war bis jetzt immer oft zu Hause und ist nie regelmässig ausgegangen, weswegen ich nun doch etwas verwundert bin, wieso niemand hier zu sein scheint.

«Ich klingle mal.» Ich trete einen Schritt auf die Haustüre zu und drücke den kleinen Knopf. Ich höre die vertrauten Töne der Glocke im Haus, doch weder Schritte oder ähnliche Geräusche, die darauf deuten, dass jemand hier wäre. Ein paar Minuten bleibe ich stehen, bevor ich nochmals auf die Klingel drücke. Jessica hat inzwischen auf der Schaukel Platz genommen und sieht mich mitleidig von der Seite an.

«Das wird wohl nichts», seufze ich, drehe mich um und setze mich auf der Treppenstufe hin, welche zurück in den Garten führt. Jessica gesellt sich zu mir.

«Und was jetzt?», fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Tja, wenn ich das wüsste. Am Telefon möchte ich meine Mutter nicht über meinen Vater ausfragen. Das Risiko, dass sie sich vor der Konversation drückt, ist zu gross.

«Keine Ahnung. Ich gehe nach Hause. Vielleicht fällt mir auf dem Weg noch etwas ein.»

In meinem Zimmer schlüpfe ich gleich als erstes in meine Trainerhose und einen schlabbrigen Pullover. Ich mache es mir auf meinem Bett gemütlich und nehme meinen Laptop auf den Schoss. Wenn Mama mir nichts über meinen Vater erzählen möchte, muss ich eben selbst nachforschen. Auch wenn ich absolut keine Idee habe, wo ich anfangen soll zu suchen. Ich beginne in einem Worddokument aufzuschreiben, was ich alles über meinen Vater weiss. Er ist im Alter von fünfunddreissig Jahren bei einem Autounfall gestorben und hat an der Kunst und Design Hochschule in der Stadt studiert. Dort hat er auch Mama kennengelernt. Fünf Jahre später sind sie zusammengezogen und drei Jahre später bin ich zur Welt gekommen. Ich frage mich, was für Artikel ich zu lesen bekomme, wenn ich seinen Namen in die Suchmaschine eingebe. Bis jetzt habe ich mir dies immer untersagt, weil ich alle Infos von meiner Mutter und nicht von irgendwelchen Boulevardzeitungen erhalten wollte. Aber die Situation hat sich geändert. Ich tippe den Begriff Josh Ross ein und drücke auf Suchen. Mehrere Tausend Einträge werden gefunden, wobei sich alle um andere Menschen zu handeln scheinen. Doch nach einer halben Stunde stosse ich auf eine Seite der Hochschule Kunst und Design. Papa wurde als bester Absolvent in seinem Jahrgang geehrt. Das Foto zeigt ihn mit einem weissen Hemd, karierten Hosen, einer Fliege und Hosenträger vor einem Gemälde stehen. Seine dunklen Haare sind etwas zerzaust, aber er sieht überglücklich aus und strahlt in die Kamera. Dem Aussehen nach zu urteilen, schätze ich ihn auf Mitte Zwanzig. Ich lese den Artikel durch und verweile zuunterst bei der Bildergalerie ein paar Minuten. Papa hatte Talent, das muss man ihm lassen. Auf den Fotos sieht man ihn vor seinen Gemälden in einer Ausstellung posieren. In der Bildlegende steht «Josh Ross an der Vernissage seiner Abschlussarbeit zum Thema Chaos.» Auf manchen Fotos posiert Papa allein, auf anderen schüttelt er gerade die Hand eines Anzugträgers oder umarmt jemanden lachend.

Plötzlich meldet sich mein Bauch mit einem lauten Knurren, weswegen ich zusammenzucke, weil ich mich ab mir selbst erschrocken habe. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich bereits seit drei Stunden vor dem Laptop sitze. Langsam erhebe ich mich, verlasse mein Zimmer und begebe mich Richtung Kühlschrank. Jessica ist immer noch nicht zu Hause. Vermutlich übernachtet sie heute bei James. Ich setzte Spaghetti-Wasser auf und stecke meinen Kopf wieder in den Kühlschrank, um nach etwas essbarem Ausschau zu halten.

Nachdem ich zwei grosse Portionen Spaghetti Carbonara und einen gemischten Salat verputzt habe, genehmige ich mir noch ein Glas Wein. Ich stelle es auf unseren Wohnzimmertisch, hole meinen Laptop aus dem Zimmer und setze mich auf das weiche Sofa. Gerade als ich nach dem süffigen Getränk greife und einen grossen Schluck davon nehme, bleibt mein Blick an einer Gestalt auf einem der Fotos hängen. Zögernd schlucke ich die süsse Flüssigkeit hinunter und senke meinen Kopf in Richtung Bildschirm. Das gibt es doch nicht! Ich gehe die Bildergalerie nochmals mit schnellen Klicks durch, wobei ich mich auf diese Gestalt fokussiere, die auf fast jedem Bild zu sehen ist. Wie kommt es, dass sie mir vorher nicht aufgefallen ist? Auf dem letzten Bild steht die Gestalt ein wenig entfernt von Papa. Das schwarze Cocktailkleid schmiegt sich eng um ihre Hüfte und ihre langen schwarzen Haare fallen ihr über die linke Schulter. Den Blick hat sie auf Papa gerichtet und auf ihren Lippen liegt ein Lächeln. Nach einem zweiten Schluck Wein und genauerer Inspizierung der Gestalt von Kopf bis Fuss bin ich mir sicher. Es ist Evelyn, die Tante von Liam.

In meinem Kopf dreht sich alles. Normalerweise würde ich sagen, dass es sich hier um einen Zufall handelt. Aber nachdem ich ein zweites Foto gefunden habe, auf dem die beiden sich umarmen, ist diese Annahme zerstört worden. Evelyn und Papa? Woher kennen sich die beiden?

Ich schliesse den Laptop mit einer ruckartigen Bewegung, gehe zurück in mein Zimmer und lege den Laptop auf meinen Schreibtisch. Im Bett suche ich an die Decke starrend die Verbindung zwischen meinem Vater und Evelyn. Vielleicht haben beide an dieser Hochschule studiert und kennen sich von dort? Mein Kopf brummt. Mit einem seufzen drehe ich mich auf die Seite und schliesse die Augen. Doch an Schlaf ist nicht mal ansatzweise zu denken. Ich bin viel zu hibbelig und nervös, als das ich jetzt schlafen könnte. Stundenlang wälze ich mich hin und her, bis irgendwann die ersten Sonnenstrahlen in mein Zimmer scheinen. Na super, so beginnt man gerne einen neuen Tag.

Müde betrete ich die Küche. Jessica steht hinter dem Herd und summt fröhlich vor sich hin. Als sie mich entdeckt, kann sie sich ein Grinsen nicht verkneifen.

«Victoria! Ich hatte die beste Nacht meines Lebens!»

«Erinnere mich nicht daran, wie toll Sex sein kann. Das letzte Mal als ich mit einem Typen etwas hatte lag noch Schnee», antworte ich ihr grimmig und schenke mir ein Glas Orangensaft ein.

«Kommst du gerade aus dem Bett?», fragt sie verwundert und mustert mein zerknautschtes Gesicht und meine unordentlichen Haare.

«Ja. Ich konnte erst heute früh einschlafen», antworte ich ihr und betrachte, beinahe sabbernd, das Essen in der Pfanne.

«Darf ich mitessen?»

«Klar, ich habe genug gekocht», antwortet mir Jessica fröhlich.

Mit Messer und Gabel in der Hand warte ich am Tisch sehnlichst darauf, dass Jessica mit unseren Tellern aus der Küche kommt.

«Ich muss dir was erzählen», beginne ich langsam, während ich die Pasta in mich hinein schaufle. «Papa und Evelyn kennen sich.»

Jessica hält inne und sieht mich fassungslos an. «Dein Ernst?», fragt sie mich mit grossen Augen. «Wie kommst du darauf? Hast du gestern noch mit deiner Mutter geredet?»

«Nein das nicht, aber ich habe Papa gegoogelt», flüstere ich beinahe. Irgendwie schäme ich mich dafür. Ich habe das Gefühl, ich habe Mama hintergangen.

«Und dann?», fragt Jessica aufgeregt. «Nun erzähl schon! Ich habe so viele Fragen!»

In knappen Worten erzähle ich ihr, was ich gestern herausgefunden habe.

«Krass», murmelt Jessica leise. «Aber Evelyn hat nichts erwähnt, als du sie kennengelernt hast, oder?»

«Nein, aber vielleicht weiss sie nicht, dass ich seine Tochter bin. Ross ist schliesslich kein seltener Nachname.»

«Ja kann schon sein, aber unwahrscheinlich ist es schon, oder?»

«Ich weiss es nicht», seufze ich und schiebe meinen leeren Teller auf die Seite. Jessica mustert mich prüfend.

«Du hast nicht vergessen, dass wir bei Nathalia und Alex eingeladen sind zum Abendessen, richtig?»

Oh doch, und wie ich das vergessen habe. Meine Motivation ist mir ziemlich sicher ins Gesicht geschrieben, weil Jessica anfängt zu lachen.

«Du hast es vergessen», antwortet sie mir grinsend. «Übrigens habe ich James und Mira eingeladen.»

«Mira? Wieso denn das?», frage ich unglaubwürdig. «Ich dachte du magst sie nicht.»

«Doch sogar sehr. Seit ich erfahren habe, dass sie lesbisch ist, hat sich meine Eifersucht in Luft aufgelöst. Vielleicht lag auch die Flasche Weisswein daran, die wir gestern zu dritt getrunken haben.»

Bei diesen Worten kann ich mir ein kichern nicht verkneifen. Natürlich liegt es an dem Wein. Ich stehe auf und bringe das Geschirr zurück in die Küche.

«Wann müssen wir heute los?», frage ich etwas demotiviert. Eigentlich würde ich lieber zu Hause bleiben.

«Ich würde sagen so um sieben Uhr», antwortet mir Jessica, während sie die Teller in die Spülmaschine räumt. Gut, dann habe ich noch über drei Stunden Zeit, mich mental auf den Abend vorzubereiten.

Liam

«Ich hole euch bei der Bushaltestelle ab», antworte ich Niklas ins Telefon.

«Cool, danke», antwortet er und legt auf. Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Sofa und starre in den Garten hinaus. Gerade höre ich noch, wie sich die Haustüre mit einem lauten Knall schliesst. Evelyn und Robert verreisen das Wochenende in die Berge. Robert hat dort eine extravagante Villa, welche unserem Haus sehr ähnlich ist. Seiner Meinung nach ist es aber ein Ferienhaus. So viel Protz und Prunk braucht doch niemand. Was hast du denn von all dem Geld und Reichtum, wenn du tot bist? Genau, nichts. Absolut nichts. Aber dies ist das einzig Tolle in seinem miserablen Leben. Deswegen muss er auch allen unter die Nase reiben, wie viel Geld und Kunstwerke er besitzt.

Ich verlasse mein Zimmer und steige die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer gehe ich geradewegs auf die Bar zu und schenke mir ein Glas Whiskey ein. Noch drei Stunden bis Niklas und Kai hier ankommen. Was soll ich so lange nur tun? Ohne gross zu überlegen, ziehe ich mein Telefon aus der Hosentasche und schreibe Victoria eine Nachricht.

Hast du heute schon was vor?

Eigentlich sagte ich den Jungs, dass heute nur wir drei hier sind. Aber Victoria hat eine beruhigende Art, was ich gerade gut gebrauchen kann. Drei Minuten später sehe ich das Display aufleuchten.

Gehe heute zu Alex und Nathalia Abendessen. Vielleicht sind wir später noch unterwegs.

War ja klar. Etwas genervt kippe ich den Rest meines Whiskeys herunter.

Kurz vor sieben Uhr treffe ich bei der Bushaltestelle ein. Niklas und Kai müssten jeden Moment ankommen. Ich setze mich auf die Treppenstufe der Kirche und spiele mit meinen Ringen herum. An beiden Händen trage ich drei Stück, welche aus Silber und mit schwarzen Details geschmückt sind. Zwei Minuten später fährt der Bus vor. Niklas steigt als Erster aus. Seine schwarzen Locken fallen ihm ins Gesicht, aber seine türkisfarbenen Augen und sein breites Grinsen sind trotzdem unverkennbar. Wie immer ist er komplett in schwarz gekleidet. Kai hingegen scheint wie eine Sonne neben ihm. Er hat blondes Haar und grüne Augen. Sein beiger Mantel lässt ihn fast wie ein reicher englischer Gentleman aussehen.

«Ciao Liam!», begrüsst mich Niklas und umarmt mich kurz. Wir haben uns seit den Winterferien nicht mehr gesehen. Beide sind zusammen ein halbes Jahr reisen gegangen. Hätte Evelyn mich nicht hier festgehalten, wäre ich mitgegangen.

Ich erwidere die Geste und wende mich dann Kai zu. «Hey Bro, schön euch zu sehen. Ihr wisst gar nicht, wie langweilig es hier ohne euch ist.»

«Tja, ich würde sagen, jetzt kann die Party steigen!», schreit Kai laut in die Nacht hinaus, gefolgt von einem freudigen Ausruf von Niklas.

Zuhause angekommen setzen wir uns mit unseren Gläsern in den Wintergarten. An solchen Treffen ist es Tradition, teuren Whiskey und Zigarren zu rauchen, wobei ich heute lieber richtige Zigaretten habe.

«Jetzt erzähl mal, wie ist es hier so?», fragt Niklas während er seine Zigarre vorbereitet.

«Da gibt es nicht viel zu erzählen», beginne ich langsam. «Robert, dieser Schweinehund, hat sich hier eingenistet. Wie ein ekliger Parasit.»

«Evelyn ist also immer noch mit ihm zusammen?», fragt Kai skeptisch.

«Ja», seufze ich laut und ziehe an meiner Kippe.

«Naja versteh mich jetzt nicht falsch, aber wieso jemand freiwillig mit deiner Tante eine Beziehung eingeht, ist mir auch ein Rätsel», wirft Niklas in die Runde. Da hat er vollkommen recht.

«Können wir bitte heute nicht über Evelyn reden?», antworte ich den beiden genervt. Evelyn stresst mich sowieso schon jeden Tag aufs Neue. Ich bin froh, dass ich endlich ein Wochenende Pause von ihr habe.

«Klar man», antwortet Kai und erhebt sein Glas. «Auf ein geiles Wochenende ohne Grenzen!»

Victoria

«Bist du endlich fertig, Jessica?», rufe ich in Richtung Badezimmer. Eigentlich dachte ich, dass heute ich diejenige bin, die lange für ihre Haare braucht. Jessica ist jetzt bestimmt schon seit einer Stunde hinter dieser Tür verschwunden.

«Noch zwei Sekunden!», schreit sie hinter der Tür hervor. Das hat sie auch schon vor zehn Minuten gesagt.

«Jetzt komm endlich. James hat dich schon in einem ganz anderen Zustand gesehen und immer noch attraktiv gefunden. Dann wird er dich auch so wunderschön finden.» Offenbar haben meine Worte etwas bewirkt, denn Jessica öffnet endlich die Tür und tritt auf den Flur hinaus. Ihre Haare sehen immer noch gleich aus wie vorher, aber ich verkneife mir diesen Kommentar, weil sie sonst wieder im Bad verschwindet.

«Gut, ich bin fertig. Wir können los», antwortet sie strahlend. Zum Glück. Noch eine Sekunde länger und ich wäre hier festgewachsen.

Um halb acht Uhr treffen wir endlich bei Alex und Nathalia ein. James und Mira haben wir unterwegs bei der Bushaltestelle abgefangen.

«Endlich seid ihr da!», begrüsst uns Alex und umarmt jeden einzelnen von uns. Als er James entdeckt, bleibt er kurz wie angewurzelt stehen. Offenbar ist auch ihm seine makellose Haut und sein markanter Kiefer aufgefallen. James sieht wirklich gut aus. Manchmal bin ich fast ein bisschen neidisch auf Jessica, wobei ich ihr natürlich den Spass gönne. Eigentlich frage ich mich eher, wie lange es dauert, bis die beiden ein Paar werden. Aber Jessica behauptet jedes Mal, dass dies nichts Ernstes zwischen ihnen sei. Ihre strahlenden Augen und ihr kindliches Kichern, wenn sie über ihn spricht, erzählen aber eine andere Geschichte.

«Das ist James», stellt Jessica ihn vor. «Und das ist Mira.»

Sie betreten die Wohnung und folgen Nathalia ins Esszimmer. Während Alex die Tür schliesst, flüstere ich ihm leise zu: «James ist hetero und hat eine, sagen wir mal, offene Beziehung mit Jessica.» Etwas enttäuscht sieht mich Alex an.

«Natürlich ist er hetero», antwortet er mir und verdreht die Augen. Über seinen Kommentar muss ich lachen.

«Wir können das gerne bei einem Glas Wein besprechen.»

«Lieber bei einer Flasche», lacht Alex und folgt mir zum Tisch.

Das Essen war unglaublich! Zur Vorspeise gab es Kürbissuppe und zum Hauptgang Wild mit Preiselbeersauce und Gemüse. Mein Bauch war noch nie so voll. Der lange Tisch an dem wir alle sitzen ist mit einer weissen Tischdecke, vielen Blumen und Kerzen geschmückt. Jessica und James sitzen gegenüber von mir und tuscheln leise miteinander. Alex sitzt neben mir und tupft sich mit seiner Serviette den Mund ab. Neben ihm steht Nathalia gerade vom Tisch auf und beginnt das Geschirr in die Küche zu tragen.

«Wer will Kaffee?», fragt sie in die Runde. Mira und James antworten im Chor «Sehr gerne.»

Alex hilft Nathalia die Teller abzuräumen und richtet sich anschliessend an Mira. «Jetzt erzähl mal Mira, was machst du so im Leben?»

«Über mich gibt es nicht viel zu erzählen», kichert Mira leise. «Ich studiere Kunst und möchte gerne in Zukunft mein eigenes Malatelier haben. Ziel wäre, dass ich von der Malerei leben könnte.»

«Uff, das ist aber schwierig», ruft ihr Nathalia aus der Küche zu.

«Und wie, aber ich gebe nicht auf», erwidert Mira und nippt an ihrem Kaffee, den Alex gerade vor ihr abgestellt hat. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Lippen glänzen feucht.

«Ihre Bilder sind der Hammer!», schwärmt James. «Ich habe im Cofféshop einige Gemälde von ihr ausgestellt.»

Die Konversation geht noch einige Minuten so weiter, doch meine Gedanken schweifen schon wieder zu meinem Vater. Ich weiss nicht, ob ich Liam davon erzählen soll, dass sich mein Vater und Evelyn gekannt haben. Eigentlich tut es nichts zur Sache. Evelyn und mein Vater wären im gleichen Alter. Allerdings wäre es interessant zu wissen, ob Evelyn denn auch meine Mutter kennt. Schliesslich haben Mama und Papa sich im Studium kennen gelernt.

«Victoria?», vernehme ich schwach jemanden von der Seite rufen. «Victoria!» Ruckartig drehe ich den Kopf nach rechts.

«Komm schon, James und Mira verpassen sonst ihren Bus!», ruft mir Jessica aufgeregt zu. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich die letzte halbe Stunde komplett abgeschweift bin. Etwas verwirrt erhebe ich mich und folge den anderen nach draussen. Auf dem Weg zur Tür verabschiede ich mich von Alex und Nathalia und bedanke mich für das Essen.

«Wie spät ist es denn?», frage ich Jessica als wir auf die dunkle Strasse hinaustreten.

«Kurz vor zwölf Uhr», antwortet sie mir leise. «Wo warst du mit deinen Gedanken die letzte Stunde? Ich habe dich noch nie so abwesend erlebt.»

«Die Sache mit Papa macht mir zu schaffen», gebe ich müde zu und trotte hinter Jessica her. «Hast du noch Lust weiterzugehen?»

Jessica grinst mich an und ich weiss direkt, was sie sagen wird. «Ich begleite James nach Hause.»

Na super. Eigentlich habe ich noch keine Lust nach Hause zu gehen. Kurz überlege ich, ob ich Liam schreiben soll. Wir sind zwar noch keine Freunde geworden, aber irgendwie mag ich ihn.

«Mira, hast du noch Lust weiterzugehen?», rufe ich ihr zu. Sie dreht sich um und beginnt zu strahlen.

«Klar, wohin gehen wir?»

«Zu einem Freund», antworte ich ihr und ziehe mein Telefon aus der Tasche. In wenigen Sekunden tippe ich Liam einen SMS:

Ist es in Ordnung, wenn ich eine Freundin mitbringe?

Wenige Sekunden später folgt die erhoffte Antwort:

Klar, wir sind bei mir zu Hause.

Zufrieden lächle ich und blicke dann in Jessicas Gesicht. Sie hat eine Augenbraue hochgezogen und mustert mich skeptisch.

«Von welchem Freund ist denn die Rede?», fragt sie mich neckend, wobei sie die Antwort vermutlich bereits kennt.

«Von Liam. Ich glaube er hat ein paar Freunde eingeladen. Sie sind bei ihm zu Hause», antworte ich ihr und versuche so gut wie möglich ihren Unterton nicht zu beachten. «Dann sehen wir uns morgen?»

«Ja», grinst Jessica und umarmt mich zur Verabschiedung. «Viel Spass!»

Auf dem Weg zu Liam wird der Wind stärker und kühler. Der Mond steht hoch am Himmel und strahlt sein helles Licht auf die weiten Felder. Der Friedhof wirkt mystisch und geheimnisvoll, wie immer wenn Nacht ist. Das alte Herrenhaus leuchtet in der Dunkelheit von innen, weil offenbar im gesamten Haus das Licht an ist. Was für eine Stromverschwendung. Wir betreten das Gelände durch das schwere Eisentor und gehen den Weg entlang. Mira scheint genauso überwältigt von dem Gebäude zu sein wie ich, als ich das erste Mal hier war. Ihr Blick fällt auf die Familiengruft. Sie bleibt kurz stehen und betrachtet das dunkle Gebilde einige Sekunden lang.

«Das ist die Familiengruft der Blackwoods», erkläre ich ihr sachlich. «Liam wohnt hier mit seiner Tante Evelyn. Aber vielleicht erwähnst du besser nichts bezüglich der Familie.»

Mira nickt und folgt mir zur Tür. Ich klingle einmal und höre nach ein paar Sekunden Schritte von innen, die sich nähern. Mit einem lauten Klacken öffnet sich die Tür und ein grossgewachsener, muskulöser junger Mann steht vor mir. In seiner Hand hält er ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, vermutlich Whiskey, und zwischen dem Zeige- und Mittelfinger klemmt eine qualmende Zigarette.

«Du musst Victoria sein, richtig?», fragt er mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Seine markanten Wangenknochen kommen beim Sprechen deutlich zum Vorschein und seine schwarzen Locken fallen ihm ins Gesicht. Erst als er ein Schritt nach vorn auf mich zu macht, kann ich seine Augen sehen. Sie scheinen wie türkisfarbene Seen, welche von einem dunkelblauen Kranz eingefasst sind. Von ihnen geht eine Wärme sowie eine Kälte aus.

«Ähm, ja», beginne ich zu stottern. Dem jungen Mann scheint das nicht weiter aufgefallen zu sein und lächelt freundlich. «Entschuldige, ich habe Liam erwartet», versuche ich mich zu erklären.

«Er ist im Wintergarten. Kommt doch rein. Ich bin Niklas», antwortet er mir freundlich und winkt uns in die warmen vier Wände.

«Freut mich», erwidere ich ihm etwas schüchtern und trete ein. «Oh entschuldige, das ist Mira.»

Oh Gott, Victoria reiss dich zusammen. Mira hält Niklas die Hand hin und begrüsst ihn höflich. Auch ihr scheint sein Äusseres nicht entgangen zu sein. Gutaussehend und freundlich. Hoffentlich ist das nicht nur der erste Eindruck, sondern sein wirkliches Ich.

«Wollt ihr etwas trinken?», fragt uns Niklas, während wir ihm in das Wohnzimmer folgen. Dort entdecke ich Liam an der Bar. Als er mich sieht, verziehen sich seine Lippen zu einem strahlenden Lachen. Offenbar ist er schon etwas angetrunken.

«Victoria!», ruft er laut und kommt auf mich zu. Er legt seinen Arm um mich und zieht mich fest an seine Brust. Okay, wann ist er so zutraulich geworden?

«Wie geht es dir?», frage ich ihn sichtlich amüsiert von seiner Reaktion.

«Perfekt. Schön bist du da», antwortet er mir und löst mich aus seiner Umarmung. «Und wer ist deine Freundin?»

«Ich bin Mira. Freut mich dich kennen zu lernen.»

«Sehr erfreut», antwortet Liam ihr und küsst ihre Hand. Oha. Ich versteh die Welt nicht mehr. «Kai ist auch noch hier. Er wartet im Wintergarten. Fühlt euch wie zu Hause.» Damit schlendert Liam Richtung Speisezimmer und biegt dort durch die offene Tür nach links ab.

«Evelyn ist dieses Wochenende verreist», erklärt uns Niklas.

«Das ist also der Grund für seine Euphorie», antworte ich grinsend. Evelyn muss wohl ganz schön anstrengend sein, wenn sich ein Mensch so sehr verändert durch die Abwesenheit einer Person. Niklas reicht Mira und mir ein Glas Weisswein und führt uns zu den anderen in den Wintergarten. Auf dem Weg sieht mich Mira etwas unsicher an.

«Fühlst du dich unwohl?», flüstere ich ihr leise zu.

«Nein, alles in Ordnung», antwortet sie mir mit einer schnellen Handbewegung. Ich lächle ihr zu und durchquere mit Mira das Speisezimmer. Der Wintergarten ist voll mit Pflanzen, zwei Sofas und drei Sessel, die sich alle um einen grossen Glastisch befinden. Die Glaswand in den Garten hinaus ist geöffnet und lässt den kühlen Wind hineinströmen. Liam sitzt auf einem der Sessel. Er hat ein Bein angewinkelt über sein Knie gelegt. Sein weisses T-Shirt leuchtet in dem mit Kerzenschein beleuchteten Raum. Mir fällt auf, dass dies der einzige Raum ist, welcher nur mit Kerzen als Beleuchtung ausgestattet ist. Im Rest des Hauses, jedenfalls in dem Teil, den ich bereits gesehen habe, sind gewöhnliche Lampen vorhanden. Rechts von Liam sitzt ein blonder Mann auf dem Sofa, welcher Kai sein muss. Sein weisser Rollkragenpullover erinnert mich an einen Polospieler. Sie unterhalten sich ausgiebig miteinander und Kai steckt sich eine Zigarette zwischen die Zähne. Er zündet sie mit einem Feuerzeug an und stösst den Rauch nach oben Richtung Decke, während er sich auf dem Sofa nach hinten lehnt. Mira und ich setzen uns auf das Sofa gegenüber. Niklas nimmt auf einem Sessel, welcher gegenüber von Liam steht, Platz.

«Kai, das sind Victoria und Mira», stellt uns Liam vor und Kai erwidert die Begrüssung mit einem leichten nicken. Dieser Typ ist mir unsympathisch. Ich weiss nicht, ob es an seinem Gesichtsausdruck liegt oder schlichtweg an der Gesamterscheinung.

«Wie war das Essen?», fragt mich Liam und zündet sich eine Zigarette an.

«Toll! Nathalia kann super kochen. Ich habe viel zu viel gegessen», schwärme ich und nippe dabei an meinem Weinglas. «Was habt ihr so gemacht?»

«Den Whiskey von Robert geleert», grinst Liam und stösst darauf mit Kai an.

«Wer ist Robert?», fragt Mira schüchtern. Vermutlich war sie sich nicht sicher, ob diese Frage gestattet ist.

«Der Freund meiner Tante», antwortet Liam ihr und verdreht die Augen. «Ein schmieriger Typ.»

Das ist mir auch neu. Ich habe schon vermutet, dass Evelyn einen Partner hat, aber gesehen habe ich ihn noch nie. Und so wie Liam von ihm erzählt, möchte ich das auch nicht. Mira und Niklas haben inzwischen ein Gespräch über das Studium begonnen. Offenbar zeichnet auch Niklas leidenschaftlich gerne. Hier kann ich definitiv nicht mitreden. Ich blicke zu Liam und Kai hinüber. Kai ist an seinem Telefon beschäftigt, erhebt sich nach ein paar Sekunden und verlässt die Runde. Liam starrt mit müden Augen in den Garten hinaus. Ich frage mich wirklich, was in seinem Kopf vorgeht. Mittlerweile habe ich Liam zwar besser kennengelernt, aber seine Stimmungsschwankungen verwirren mich immer noch. Gerade als ich etwas sagen möchte, höre ich vom Wohnzimmer einen erstickten Schrei und Glas zerspringen.

Liam

Victoria und ich drehen uns gleichzeitig erschrocken um. In meinem Zustand habe ich gar nicht bemerkt, dass nur noch Victoria und ich hier sitzen. Wo ist der Rest hin? Ich springe von meinem Sessel auf und laufe zurück ins Wohnzimmer. Victoria folgt mir in schnellen Schritten. Was zum Teufel? Niklas hat Kai mit dem Unterarm an seiner Kehle gegen die Wand gepresst. Mira steht kreidebleich daneben und betrachtet die beiden ängstlich.

«Verdammt Kai! Reiss dich zusammen!», schreit Niklas ihn an. Victoria eilt zu Mira hinüber und führt sie von den beiden weg.

«Was ist passiert?», schreie ich meine Freunde an und starre dabei auf das zerbrochene Glas am Boden. Der Whiskey hat auf dem weissen Teppich braune Flecken hinterlassen. Offenbar war das nicht nur ein Glas, sondern die ganze Karaffe.

«Lass mich los!» Kai reisst sich von Niklas los und stapft wütend davon. Mira und Victoria setzen sich auf das Sofa. Victoria ist wie es scheint genau gleich verwirrt wie ich. Niklas fährt sich mit der Hand durchs Haar und seufzt laut.

«Kai hat seine Hände nicht bei sich behalten können», flüstert er mir zu und blickt dabei vorsichtig zu Mira. Nicht schon wieder. So sehr ich Kai auch mag, aber seinen Drang Frauen zu begrapschen hat in den letzten drei Jahren drastisch zugenommen. Insbesondere wenn er Alkohol trinkt, ist er nicht mehr er selbst.

«Ist alles okay Mira?», frage ich sie vorsichtig.

«Ja», antwortet sie leise. «Ich habe mich nur furchtbar erschrocken.»

«Tut mir leid, dass so etwas passiert ist», seufze ich und setze mich gegenüber von Mira und Victoria aufs Sofa. Niklas beginnt vorsichtig die Scherben vom Boden einzusammeln. Ich dachte wirklich, Kai hat sich mittlerweile mehr unter Kontrolle. Niklas wirft die scharfen Glasscherben in den Abfalleimer, nimmt seinen Pullover vom Sessel, welcher neben dem Sofa steht, und wendet sich dem Ausgang zu.

«Ich sehe nach Kai», ruft er uns zu, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet aus dem Wohnzimmer.

«Kann ich etwas trinken?», fragt Mira immer noch etwas blass.

«Klar, ich bringe dir ein Glas Wasser», antwortet Victoria ihr und will gerade aufstehen, als Mira sie zurückhält und mich ansieht. «Lieber etwas Starkes. Whisky, wenn ich darf.»

Ich grinse sichtlich, stehe auf und schenke ihr ein Glas der braunen Flüssigkeit ein. Zum Glück ist in diesem Haushalt Whisky vorrätig.

«Hier», antworte ich Mira und reiche ihr das Glas. Der erste Schluck ist so gross, dass bereits das halbe Glas leer ist. Sie verzieht das Gesicht, während die Flüssigkeit ihr die Kehle herunterfliesst.

«Jetzt geht’s mir besser», antwortet sie und lächelt. «Ich gehe kurz auf die Toilette.» Mira stellt das Glas vor ihr auf den Tisch und verschwindet.

Wir verweilen noch ein paar Sekunden stumm auf dem Sofa, bevor Victoria sich räuspert.

«Liam, wenn wir gerade unter uns sind, würde ich dich gerne etwas fragen.» Neugierig hebe ich den Kopf und blicke in ihre braunen Augen.

«Hast du schon mal den Namen Josh Ross gehört?», fragt Victoria etwas bedrückt und sieht dabei auf ihre Finger.

«Nein, wieso fragst du?»

«Josh Ross ist mein Vater. Er ist aber bereits verstorben», flüstert sie leise. Ihre Augen schimmern glasig und traurig.

«Das tut mir leid.»

Kurz herrscht wieder eine Stille zwischen uns und ich weiss nicht, ob ich sie weiter danach fragen soll. Ich erhebe mich und wische mit einem Lappen aus der Bar die restlichen Whiskyflecken vom Boden. Der Teppich ist definitiv ruiniert. Evelyn wird gar nicht begeistert sein.

«Ich habe Fotos von ihm gefunden. Evelyn war auch darauf zu sehen. Offenbar haben sie sich gekannt», fährt sie fort und blickt mich dabei unsicher an. Krass, damit habe ich jetzt nicht gerechnet.

«Echt jetzt?», antworte ich verwundert. Victoria nickt und dreht den Kopf in Richtung Eingangshalle, weil sich Schritte nähern. Auch ich hebe den Blick und sehe Mira und Niklas auf uns zukommen. Sie unterhalten sich und Mira muss immer wieder kichern. Hoffentlich hat sie den Vorfall von eben nicht zu sehr mitgenommen und bereits wieder vergessen.

«Wo ist Kai?», wende ich mich an Niklas mit ernster Miene.

«Keine Ahnung», seufzt er und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Vielleicht ist es besser, wenn er eine Zeit nicht mehr kommt.

«Vermutlich ist er irgendwo in einer Bar», murmle ich vor mich hin und werfe ein paar wenige Glassplitter in den Abfalleimer.

«Was denkst du Mira, gehen wir langsam nach Hause?», fragt Victoria und blickt dabei auf ihre Armbanduhr. Mira stimmt ihr nickend zu. Ich begleite die beiden noch zur Tür und nehme Mira dabei etwas zur Seite.

«Ist alles in Ordnung?», frage ich sie etwas bedrückt. Ich habe ein unglaublich schlechtes Gewissen wegen Kai. «Kai ist manchmal nicht er selbst. Er hat im Moment selbst einige Probleme zu Hause. Natürlich ist das keine Entschuldigung für sein Verhalten.»

«Alles in Ordnung Liam. Mach dir keine Sorgen», antwortet sie mir lächelnd und legt ihre Hand auf meine Schulter. Niklas und ich verabschieden uns von Victoria und Mira und schliessen die Tür hinter ihnen.

«So habe ich mir den Abend nicht vorgestellt», seufze ich und lehne mich mit dem Rücken an die Tür. Niklas zückt sein Telefon und betrachtet das Display mit gerunzelter Stirn.

«Hast du etwas von Kai gehört?»

«Nein», antwortet er mir und steckt sein Telefon wieder in seine Hosentasche. «Wir sollten nach ihm suchen gehen.»

Ich stimme ihm nickend zu und gehe zurück ins Wohnzimmer, um meine Jacke zu holen. Wir verlassen das Anwesen nach wenigen Minuten und gehen in Richtung Zentrum. Inzwischen haben sich Wolken vor den hell scheinenden Mond geschoben. Im Haus von Victoria brennt noch Licht. Offenbar sind sie bereits zu Hause. Wir biegen auf den Feldweg ab und erreichen nach wenigen Minuten die Hauptstrasse. Es sind nur noch wenige Leute unterwegs.

«Wir sollten im puncto nachsehen», rufe ich Niklas zu. Er steht ein paar Meter vor mir und blickt zu der grossen Kirche.

«Nicht nötig», antwortet er mir und entfernt sich aus meinem Blickfeld. Ich gehe ihm in schnellen Schritten nach und sehe Kai auf einer Bank vor der Kirche sitzen. Seine Lippe ist aufgeplatzt, genauso wie seine Knöchel. Seine Augen sind blutunterlaufen und seine Wimpern von den Tränen verklebt. Bei seinem Anblick muss ich mich kurz sammeln. Obwohl ich ihn schon in viel schlimmeren Zuständen erlebt habe und selbst auch öfter so aussehe, macht mir dieser Anblick zu schaffen. Kai und ich sind beide sehr emotionale Menschen und können unsere Gefühle nur schlecht zeigen. Meistens nur in Form von roher Gewalt. Ich haste auf ihn zu und bleibe kurz vor ihm stehen. Niklas hat sich neben ihn auf die Bank gesetzt und zündet sich eine Zigarette an.

«Bro», begrüsse ich ihn zögernd. «Wie geht es dir?»

Kai antwortet nicht und versteckt sein Gesicht hinter seinen Händen. Die Knie hat er angezogen und die Ellbogen auf ihnen abgestützt. Er sieht aus, als wäre seine Welt gerade in tausend Stücke zerrissen worden.

«Was ist passiert?», frage ich nun etwas lauter. Ich sehe Niklas unsicher an. Das letzte Mal als Kai so mitgenommen aussah, musste er sich vor Gericht für seine Taten verantworten. Ich hoffe wirklich, dass es diesmal nicht so schlimm ist.

«Meine Mutter lässt sich scheiden», antwortet er uns schliesslich. «Sie sagt, sie hält es nicht mehr um meinen Vater herum aus.» Eine kurze Zeit herrscht Stille zwischen uns drei.

«Das ist aber nicht alles, oder?», hakt Niklas nach. Kai schnaubt laut und verzieht sein Gesicht zu einem leichten Grinsen.

«Nein. Und das wäre eigentlich auch kein Problem. Es überrascht mich ehrlich gesagt, dass sie es so lange mit ihm ausgehalten hat.» Kai greift in seine Jackentasche und holt ein kleines Plastiksäckchen mit weissem Pulver darin heraus.

«Ist das…?», frage ich nervös und Kai nickt.

«Kokain», beendet er meinen Satz. «Ich habe es in Vaters Büro gefunden als ich am Wochenende bei meinen Eltern zu Besuch war.»

«Jetzt erklärt sich auch das Verhalten deines Vaters», murmelt Niklas und sieht Kai mitfühlend an. Wir alle haben schwierige Familien, wobei Kai wohl immer am meisten Stress zu Hause hatte. Niklas und ich kennen seinen Vater und ich bin mir sicher, dass er ganz schön unangenehm werden kann, wenn er auf Drogen ist.

«Hast du deinen Vater schon darauf angesprochen?», frage ich Kai und drücke seine Schulter.

«Noch nicht. Aber das werde ich, sobald ich wieder zu Hause bin.»

Victoria

Ich betrete das Gästezimmer mit zwei Kissen in der Hand und lege sie auf das Bett. Mira ist im Bad und putzt sich die Zähne. Wir haben auf dem Nachhauseweg kaum gesprochen und waren beide froh, als wir endlich zu Hause angekommen sind.

«Gute Nacht!», rufe ich Mira zu und schliesse meine Zimmertür hinter mir. Ich lösche das Licht und krieche unter die warme Bettdecke. Ich frage mich, wie es Liam und seinen Freunden geht. Kurz tippe ich Liam eine SMS:

Ist alles in Ordnung? Habt ihr Kai gefunden?

Eigentlich muss mich Kai kein bisschen interessieren. Was er auch nicht sonderlich tut, aber er ist ein Freund von Liam. Vermutlich ist er nicht so schlimm, wie ich ihn heute kennengelernt habe. Nach kurzer Zeit leuchtet das Display meines Telefons auf.

Ja haben wir. Er schläft jetzt. Seine Hand ist verstaucht und sein Gesicht ist etwas entstellt. Aber sonst fehlt ihm nichts.

Oha. Offenbar war die Gewalt die Kanalisation für seine Gefühle. Ich frage mich wirklich, wieso Männer sich so oft prügeln müssen. Wieso können sie es nicht mal mit Weinen versuchen? Zwei Sekunden später trifft eine zweite SMS ein:

Hast du morgen Abend Zeit? Ich würde gerne mit dir über Evelyn sprechen.

Die Sache mit Evelyn habe ich in dem ganzen Tumult komplett vergessen. Seufzend tippe ich Liam eine Antwort, dass wir uns im Café gegenüber um neunzehn Uhr treffen können. Mir fallen wieder die Fotos ein, welche ich im Internet von Papa gefunden habe. Je mehr ich an Papa denke, desto mehr fällt mir auf, wie wenig ich eigentlich von ihm weiss. Mit leichten Kopfschmerzen lege ich mein Telefon zurück auf die Kommode und drehe mich auf die Seite. Bereits nach wenigen Sekunden fallen mir die Augen zu.

Kapitel 4

Victoria

Es ist bereits zehn Minuten nach sieben Uhr. Ich haste in der Wohnung hin und her, weil ich viel zu spät dran bin und Liam sicher bereits auf mich wartet. Den ganzen Tag habe ich mit Jessica gelernt und die Wohnung geputzt. Die Winterferien kommen immer näher, was bedeutet, dass die nächsten Wochen mit hochintensiven Lerntagen gefüllt werden.

«Verdammt», murmle ich genervt vor mich hin und durchwühle meinen Rucksack auf dem Stuhl. Jessica sitzt in ihrem Pyjama und ihren Kuschelsocken gegenüber und betrachtet mich skeptisch.

«Wenn du dich weiter so aufregst, musst du dich nicht wundern, wenn du mit einundzwanzig Jahren bereits deinen ersten Herzinfarkt hast», antwortet mir Jessica sichtlich belustigt über meine Nervosität.

«Du kannst gut reden!», blaffe ich sie an.

«Was suchst du denn?»

«Meine Schlüssel!», jammere ich und setzt mich frustriert auf den Stuhl.

«Sie liegen auf der Kommode im Eingangsbereich», erwidert sie mir und deutet auf den Flur. Ich springe auf und laufe zur Tür. Tatsächlich. Hier liegen sie. Ich stecke sie ein und rufe Jessica noch ein kurzes «Tschüss» zu und verschwinde aus der Wohnung.

Im Café blicke ich mich suchend nach Liam um. Ich finde ihn in einer Sitzecke im hinteren Teil des Raumes. Das Café ist sehr altmodisch eingerichtet mit viel Holz und antiken Lampen. Jeder Tisch und jeder Stuhl sehen anders aus und insgesamt erscheint der Raum als ein einziges grosses Brockenhaus. Nur das man hier die Möbel nicht kaufen kann.

«Hey», begrüsse ich Liam und setze mich gegenüber von ihm auf die Bank. «Entschuldige meine Verspätung.»

«Kein Problem, ich bin auch gerade erst gekommen», lächelt er mich freundlich an und steckt sein Telefon in die Jackentasche. Seine Augen sehen müde aus und seine Haare sind ein einziges Chaos. Offenbar hat er eine harte Nacht hinter sich.

«Wo sind Kai und Niklas?», wundere ich mich und betrachte Liam forschend. Ich frage mich, ob sie bereits abgereist sind.

«Einkaufen», antwortet er mir knapp. Ich nicke leicht und drehe mich suchend nach der Bedienung um. Der Besitzer ist ein älterer Mann und bestimmt schon siebzig Jahre alt. Sein Name ist Walter. Er trägt jeden Tag ein Karo Hemd und dunkel Hosen mit Hosenträgern. Wenn er Pause macht und sich seine Pfeife zwischen die Lippen klemmt, sieht er aus wie einen älteren Herrn, der auf der Alp wohnt. Er kommt in langsamen Schritten auf uns zu und begrüsst uns mit einem Lächeln.

«Hallo ihr beiden. Was darf ich euch bringen?»

«Für mich einen Cappuccino bitte», antworte ich ihm höflich. Walter nickt und wendet sich Liam zu. «Und für dich Liam?»

«Einen Espresso», erwidert er Walter. Dieser dreht sich um und verschwindet wieder.

«Nun erzähl mal Victoria. Wie bist du auf Evelyn und deinen Vater gestossen?»

Ich erzähle ihm die Geschichte in knappen Worten. Heute ist wieder so ein Tag, an dem ich Liam kein bisschen einschätzen kann. Er wirkt ruhig und gleichzeitig aufgewühlt. Seine Augen sind leer, wie so oft.

«Evelyn hat auch an der Hochschule für Kunst und Design studiert. Sie kennen sich also ziemlich sicher von dort. Erwähnt hat sie allerdings nie etwas», erzählt mir Liam und lehnt seinen Oberkörper nach hinten. Je länger ich mit Liam über seine Familie spreche drängt sich in mir eine Frage auf. Nach kurzem Zögern nehme ich all meinen Mut zusammen.

«Liam», beginne ich leise. «Wieso lebst du eigentlich bei Evelyn?» Sein Atem stockt bei meiner Frage und sein Blick ist starr auf den Tisch gerichtet. Liam atmet tief ein und stösst die Luft hörbar aus. In diesem Moment tritt Walter zu uns an den Tisch und stellt unsere Tassen vor uns ab. Wir bedanken uns mit einem Nicken und nehmen beide einen Schluck der heissen Flüssigkeit.

«Meine Eltern sind gestorben als ich noch ganz klein war», beginnt Liam zu erzählen. «Meine Mutter Alice ist bei meiner Geburt gestorben. Evelyn hat mich bei sich aufgenommen. Aber ehrlich gesagt wäre es mir lieber gewesen in ein Pflegeheim zu kommen. Evelyn hat Kinder nicht sonderlich gerne. Mein Vater hat Selbstmord begangen, nachdem Mama gestorben ist. Offenbar konnte er es nicht ertragen, ohne sie zu leben.»

Ich sehe Liam mitfühlend an. Das ist schrecklich, was ich da gerade gehört habe. Ich greife nach seiner Hand auf dem Tisch und drücke sie leicht.

«Das tut mir leid», antworte ich ihm mitfühlend und blicke dabei in seine Augen. Doch diese sind dunkle Seen geworden. Seine Seele scheint weit weg von all dem zu sein. Offenbar hat er sich innerlich so sehr von dieser Geschichte distanziert, dass es ihm mittlerweile vollkommen egal ist. Er zieht seine Hand unter meiner hervor und fährt sich damit durchs Haar. Dann fährt er fort:

«Versteh mich nicht falsch, natürlich finde ich es nicht wirklich grossartig, dass ich ohne Eltern aufgewachsen bin. Aber ich kenne es nicht anders. Evelyn ist meine einzige Verwandte, die ich noch habe. Obwohl ich gut auf sie verzichten könnte.» Ich senke bedrückt den Blick auf meine Hände. Irgendwie kenne ich das Gefühl.

«Hast du dir nie überlegt auszuziehen?», frage ich ihn leise.

«Natürlich», erwidert er schnell. «Aber ich möchte mein Geld sparen und erst ausziehen, wenn ich ein festes Einkommen habe. Weil wenn ich ausziehe, dann für immer. Ich will nie mehr zurück in dieses düstere Haus.»

Ich nicke verständnisvoll und nippe an meinem Kaffee, der inzwischen kalt geworden ist. Dabei fällt mir ein Bild auf, welches hinter Liam an der Wand hängt. Ich kneife die Augen zusammen, um die Personen auf dem Bild besser zu erkennen.

«Das glaub ich jetzt nicht», murmle ich vor mich hin und springe von meinem Platz auf. Liam folgt mir mit seinem Blick. Ich nehme das Foto von der Wand und setze mich wieder. Auf dem Bild sind fünf Personen zu sehen, die lachend und sich umarmend in die Kamera strahlen.

«Was hast du da?» Neugierig und interessiert lehnt sich Liam über den Tisch, um besser auf das Foto sehen zu können. Ich deute mit dem Finger auf den Mann, welcher rechts aussen auf dem Bild zu sehen ist.

«Das ist mein Vater», antworte ich Liam verwirrt. «Und daneben steht meine Mutter.»

Ich zeige Liam das Foto und starre wie gebannt auf die anderen Personen. Liam betrachtet es mit zusammengezogenen Augenbrauen. Die Personen scheinen in unserem Alter zu sein.

«Diese Frau auf der linken Seite ist Evelyn.» Liam tippt dabei auf die junge Brünette mit knallrot geschminkten Lippen. Sein Blick fällt auf die anderen Personen. Dann blickt er mich wie vom Blitz getroffen an. Oh nein, ich ahne böses.

«Sag jetzt nicht, dass sind deine Eltern!» Nervös und gespannt warte ich auf Liams Anwort. In seinen Augen spiegeln sich Entsetzen und Verwirrung zugleich.

«Unsere Eltern waren Freunde?», rufe ich laut und werfe fassungslos die Hände in die Luft. Ich glaube das einfach nicht. Mama hat mir nie davon erzählt. Sie hätte es doch ansprechen müssen, als ich ihr von Liam erzählt habe. Wieso verschweigt sie mir so etwas? Auch Liam scheint überwältigt von dieser Erkenntnis zu sein und starrt immer noch auf dieses Foto.

«Oh ihr habt meine Stammkunden von früher entdeckt», hören wir jemanden von der Seite lachen. Liam und ich drehen gleichzeitig den Kopf und blicken direkt in Walters Gesicht. Er steht mit einem breiten Grinsen an unserem Tisch und blickt uns abwechslungsweise an.

«Moment», beginne ich verwirrt und schüttle den Kopf. «Also waren diese fünf öfter hier?»

«Natürlich. Sie waren beste Freunde», antwortet Walter und setzt sich auf einen leeren Stuhl. Dann mustert er mich von Kopf bis Fuss und seine Augen beginnen zu strahlen.

«Ach du meine Güte!», ruft er aus. «Du bist die Tochter von Josh und Amanda! Als würde sich die Geschichte wiederholen. Ein Mitglied der Familie Blackwood und Ross hier an meinem Tisch. Wie in alten Zeiten», lacht Walter und putzt sich die Nase mit einem grossen Taschentuch. Mir brummt der Schädel. Was geht hier vor? Ich versteh die Welt nicht mehr.

«Aber ihr seht aus als hört ihr das erste Mal davon, nicht wahr?», fragt uns Walter und fängt wieder laut an zu lachen. Natürlich höre ich zum ersten Mal davon, sonst würde ich nicht wie ein Volldepp dieses Foto anstarren.

«Ich brauche frische Luft», stammle ich und stehe ruckartig auf. Ich spüre wie ich den Tränen nah bin und ein dicker Klos in meinem Hals steckt. In schnellen Schritten verlasse ich den Raum und trete nach draussen in die kühle Nacht. Ich muss mehrmals blinzeln damit meine Tränen nicht meine Wangen hinunterfliessen und ich hier vor allen zusammenbreche. Wieso muss ich alles über meinen Vater von irgendwo erfahren? Wieso kann Mama mir nicht einfach von ihm erzählen. Es schmerzt so sehr in meiner Brust, weil ich nicht weiss, woher ich eigentlich komme. Ich habe das Gefühl, meinen Eltern, insbesondere meinem Vater, mit jeder Sekunde ein Stück fremder zu sein.

«Ist alles in Ordnung?», höre ich Liam hinter mir leise. Ich schlucke noch einmal vergebens den Klos hinunter und setze mich auf einen der leeren Stühle. Den Blick auf den Boden gesenkt nicke ich leicht und vergrabe mein Gesicht in meinem Schal. Der eiskalte Wind peitscht mir um die Ohren und flüstert mir all das über die Welt zu, was ich gar nicht wissen möchte.

«Ich wollte so sehr erfahren, wer mein Vater war. Und jetzt weiss ich gar nicht mehr, ob das so eine gute Idee war. Es scheint, als hätte meine Mutter mir all die Jahre nie etwas von ihm erzählt, weil sie nicht wollte, dass ich etwas über ihn erfahre.»

Liam nickt verständnisvoll und setzt sich mir gegenüber.

«Ich liebe meine Mutter so sehr und es macht mich wahnsinnig, dass ich nun an ihren Worten zweifle.»

«Ich nehme an, du hast bereits versucht mit ihr zu reden?», fragt mich Liam mitfühlend.

«Schon mehrere Male», antworte ich ihm trotzig. «Aber jedes Mal, wenn ich dieses Thema anspreche, blockt Mama das Gespräch ab.»

Gerade als Liam etwas erwidern möchte, schweift sein Blick ab und fokussiert sich auf einen Punkt hinter mir. Von dort aus höre ich lachende Stimmen, die näher kommen und stets lauter werden. In dem Moment als ich mich umdrehen möchte, legt sich ein Arm um mich und Niklas setzt sich auf den Stuhl neben mir.

«Na ihr zwei? Immer noch hier?»

«Siehst du doch», blafft Liam ihn an und schenkt Niklas aber gleich ein zuckersüsses Lächeln hinterher.

«Hallo Victoria», höre ich eine zweite Stimme leise. Kai umrundet unseren Tisch, stellt die vollen Plastiksäcke, gefüllt mit Lebensmittel, auf den Boden und setzt sich zu uns. Der hat mir gerade noch gefehlt.

«Ich möchte mich für mein Verhalten gestern entschuldigen. Ich war nicht ganz ich selbst.» Bei dem Gedanken an die ängstliche Mira von gestern flammt langsam, aber stetig, der Zorn in mir auf. Ich werfe Kai einen vernichtenden Blick zu und merke, wie meine Kiefermuskeln sich anspannen. Wie sehr ich mich beherrschen muss ihm nicht den Kopf einzuschlagen.

«Du solltest dich nicht bei mir entschuldigen, sondern bei Mira», presse ich schliesslich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein Blick schweift unsicher zwischen Liam und Niklas hin und her.

«Ich weiss», antwortet Kai kleinlaut und zieht einen Umschlag aus der Jackentasche. «Kannst du ihr das geben?»

«Was ist das? Ein Nacktfoto?», blaffe ich gereizt. Am liebsten würde ihm den Umschlag ins Gesicht schmettern. Kai verdreht die Augen und schiebt mir den Streifen Papier auf dem Tisch zu.

«Natürlich nicht. Es ist eine Entschuldigung.»

Kurz überlege ich, ob ich den Umschlag an mich nehmen soll. Ich möchte Mira nur ungern wieder an diesen Vorfall erinnern. Auch wenn sie mir heute morgen gesagt hat, dass sie es schon wieder vergessen hätte, habe ich ihr angesehen, dass sie nicht gut geschlafen hat.

«Na schön. Ich werde Mira den Umschlag geben. Aber nur das eins klar ist», erwidere ich in scharfem Ton und stehe auf. «Ich mag dich nicht und wenn du das nächste Mal eine Frau ohne ihre Erlaubnis anfasst, sorge ich dafür, dass es dein letztes Mal war!» Mit diesen Worten lasse ich den Umschlag in meiner Tasche verschwinden und stapfe wütend davon.

Zuhause lasse ich mich erschöpft gegen die Haustür fallen. Ich möchte jetzt einfach nichts mehr von der Welt mitbekommen. Am besten ich schliesse mich für ein paar Tage in meinem Zimmer ein und mache einen Winterschlaf. Ist sowieso viel zu kalt draussen, um auch nur irgendetwas zu machen. Müde schlurfe ich in mein Zimmer, ziehe mir Hose und Pullover aus und krieche unter die kalte Decke. Bereits nach wenigen Sekunden fallen mir die Augen zu.

Die nächsten drei Wochen verliefen ohne irgendwelche Zwischenfälle oder neue Erkenntnisse. Meine Mutter hat sich nicht gemeldet, obwohl ich ihr mehrere Nachrichten hinterlassen habe. Ich hoffe ihr ist nichts passiert. Wenn ich sie auf ihrem Telefon anrufe, geht nur die Mailbox ran. Eigentlich überrascht es mich nicht. Und es interessiert mich auch immer weniger. Ich verspüre innerlich einen komischen Zorn, wenn ich an Mama denke. Ich bin wütend auf sie, weil sie mir nichts über meine Vergangenheit erzählt, und deswegen auch wütend auf mich, weil ich wütend auf sie bin. Obwohl ich sie über alles liebe, entsteht nun jedes Mal eine Falte auf meiner Stirn und meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, wenn ich an sie denke. Auch Liam ist wieder ganz der Alte geworden. Als Evelyn wieder nach Hause kam, haben sie sich heftig gestritten. Danach ist er mehrere Tage nicht in die Schule gekommen und hat nichts von sich hören lassen. Am vierten Tag ist er dann mit aufgeschürften Knöcheln und einer aufgeplatzten Lippe in der Vorlesung erschienen. Ich habe nicht nachgefragt, was passiert ist. Es geht mich nichts an, aber ich habe ihm gesagt, dass ich für ihn da bin, falls er reden möchte. Seine Reaktion war ein knappes Nicken. Damit habe ich es dann auch belassen.

Es ist bereits anfangs Dezember und der erste Schnee hat das Tal erreicht. Mit zitternden und eiskalten Fingern tippe ich Jessica eine Nachricht, dass ich heute erst spät nach Hause kommen werde. Ich möchte Mama besuchen und sicher gehen, dass alles in Ordnung ist. Natürlich wollte ich mich anmelden, aber sie hat, wie immer in letzter Zeit, das Telefon nicht abgenommen. Deswegen fahre ich nun einfach zu ihr. Wenn es sein muss, warte ich die ganze Nacht vor ihrer Haustür auf sie.

Im Bus setze ich mich auf einen der leeren Plätze in der hintersten Reihe und hole meinen Laptop hervor. In diesen vierzig Minuten Fahrt habe ich gerade noch genug Zeit, meinen Aufsatz für morgen fertig zu schreiben. Die letzten Wochen habe ich die Schule sehr vernachlässigt. Wir hatten zwar noch keine Prüfungen, aber ich habe viele Vorlesungen verpasst und dementsprechend viel Stoff nachzuholen. Zum Glück hilft mir Jessica, Nathalia und Alex dabei. Sie haben mich in diesen Wochen schon oft aus dem Schlamassel geholt. Müde starre ich aus dem Fenster. Der Nebel schleicht sich langsam von den Bergen ins Tal hinunter und lässt den dunklen Wald noch mysteriöser wirken als sonst. Ich liebe den Herbst. Wenn es kalt und feucht ist, fühle ich mich am wohlsten. Abgesehen davon liebe ich dicke Pullover und Schals, welche in ihrer Grösse bereits als Decke durchgehen könnten.

Vor dem Haus meiner Mutter bleibe ich eine Sekunde stehen und betrachte die karge Fassade. Sie ist bereits etwas verwittert und die Veranda ist überdeckt mit trockenem Laub. Hier hat wohl jemand länger nicht mehr geputzt. Stirnrunzelnd gehe ich die paar Treppenstufen nach oben und bleibe vor der Tür stehen. Ich klingle einmal und warte auf ein Geräusch im inneren. Nach wenigen Sekunden nähern sich Schritte. Mama ist zu Hause! Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus und mein Herz erfüllt sich langsam mit Wärme. Ich habe gar nicht gemerkt, wie sehr ich meine Mutter vermisst habe. Plötzlich kann ich es kaum erwarten, dass die Tür sich endlich öffnet und ich Mama in die Arme fallen kann. Mein Herz beginnt mit jedem sich nähernden Schritt schneller zu schlagen. Die Pforte öffnet sich langsam und ich will gerade einen Schritt nach vorne machen, als ich in ein mir bekanntes Gesicht blicke und halte geschockt den Atem an. Diese Person, welche mir nun gegenübersteht, wohnt hier nicht und ist definitiv nicht meine Mutter.

Kapitel 5

Victoria

Völlig perplex und mit offenem Mund starre ich in schwarze Augen. Evelyn ist wohl genau so überrascht von mir, wie ich von ihr. Sie trägt schwarze Jeans, einen weissen Rollkragenpullover und cognacfarbene hohe Stiefel. Ihre Haare sind im Nacken zu einem Dutt zusammengebunden und einzelne Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Vom Wohnzimmer her höre ich Schritte, die sich nähern.

«Wer ist es?», ruft meine Mutter um die Ecke bevor auch sie im Eingangsbereich erscheint. Als sie mich sieht, steht auch ihr der Schrecken deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich dränge mich an Evelyn vorbei und betrete mein Elternhaus mit langsamen Schritten.

«Was geht hier vor sich?», frage ich die beiden misstrauisch. Ich fühle mich, als hätte ich sie bei einer verbotenen Sache unterbrochen und könnte die Bombe jeden Augenblick platzen lassen. Mama beisst sich auf die Lippen und sieht unsicher zu Evelyn. Diese hat gerade die Tür geschlossen und schlendert gemächlich zu meiner Mutter.

«Wir sind alte Freunde. Ich wollte sie wieder mal besuchen», erklärt mir Evelyn mit ruhiger Stimme. Mama lächelt scheu und nickt zaghaft.

«Ich weiss das ihr euch kennt. Ich weiss auch, dass ihr eigentlich eine Fünfergruppe und beste Freunde wart. Was ich nicht weiss ist, wieso ihr mir das verschwiegen habt. Insbesondere du Mama», antworte ich schnippisch und verschränke die Arme vor meiner Brust. Ich verlagere das Gewicht auf mein linkes Bein und nehme eine defensive Haltung, aber mit Möglichkeit zum Angriff, ein.

«Das ist nicht so leicht zu erklären, mein Liebling», äussert sich Mama und seufzt laut. Sie geht langsam in unser Wohnzimmer und setzt sich auf den leeren Sessel. Ich folge ihr und sehe mich dabei in meinem alten Zuhause um. Die Küche auf der rechten Seite ist offen und hell. Auf der Kücheninsel habe ich als Kind immer gesessen und Mama beim Kochen zugesehen. Die grosse Fensterfront, welche Küche und Wohnzimmer verbindet, lässt einen atemberaubenden Blick auf unseren Garten werfen. Ich umrunde den schwarzen Ledersessel, in dem meine Mutter Platz genommen hat und setze mich gegenüber von ihr auf den zweiten leeren Sessel. Zwischen uns steht ein ovaler Glastisch mit einer Flasche Weisswein und zwei Gläsern. Der Kamin in der Wand lodert hell und lässt den Raum in eine idyllische Atmosphäre tauchen.

«Gibt es was zu feiern?», zische ich genervt und recke mein Kinn vor in Richtung Flasche. Dabei fällt mir ein geöffneter Umschlag auf dem Tisch auf, aus dem ein schmaler Streifen Papier hinausschaut. Es sieht aus wie ein Check. Mama hat bemerkt, dass ich den Umschlag entdeckt habe und wollte mir zuvorkommen, doch ich war schneller. Mit einer zackigen Bewegung reisse ich den Umschlag an mich und ziehe den weissen Check hinaus. Als ich die Summe darauf entdecke, bleibt mir der Atem weg. Mit grossen Augen starre ich auf das Papier, dann zu Mama, zu Evelyn und wieder zurück zu Mama.

«Was zum Teufel ist das?», schreie ich die beiden an und wedle dabei mit dem Check in der Luft herum. «Fünfzigtausend Franken? Wofür ist dieses Geld?»

«Entspann dich Victoria», seufzt Evelyn und tritt zu uns an den Tisch. Sie schenkt sich ein Glas Wein ein und trinkt einen grossen Schluck davon. «Ich habe ihr ein Gemälde deines Vaters abgekauft. Das ist alles.»

Bei diesen Worten ziehe ich scharf die Luft ein. Ich kenne Evelyn zwar nicht, und ich bin mir auch nicht mehr sicher, ob ich Mama wirklich kenne, aber was ich definitiv weiss, ist, dass Mama nie, aber auch gar nie eine Bild von Papa verkauft hätte. Abgesehen davon sind fünfzigtausend Franken für ein Gemälde von einem unbekannten Künstler nun wirklich zu viel. Zornig blicke ich Mama an, doch sie starrt nur auf ihre Finger.

«Mama», beginne ich so ruhig wie möglich. «Bitte sag mir die Wahrheit.»

Sie blickt zu mir hoch, ihre Augen sind geschwollen und rot. Tränen rollen ihr über die Wangen, doch alles was ich von ihr höre, ist ein leises Schluchzen. Ich unterdrücke den stechenden Schmerz in meiner Brust und senke den Blick.

«Ich weiss zwar nicht was hier gespielt wird, aber Mama hätte nie ein Bild von Papa verkauft. Sie stehen rechtlich mir zu.» Mama sieht erschrocken zu mir hoch und ist inzwischen kreidebleich geworden.

«Woher weisst du von dem Testament?», flüstert sie mit zittriger Stimme und umklammert die Armlehne fest mit ihrer Hand.

«Falls du es vergessen hast, ich bin hier aufgewachsen», blaffe ich, zerreisse den Check und werfe die Papierfetzen ins Feuer. «Willst du mir jetzt erzählen, was hier los ist?»

Mama öffnet leicht den Mund, als wolle sie etwas erwidern, doch sie schliesst ihn gleich wieder.

«Ich kann nicht, tut mir leid», antwortet sie schliesslich nach quälenden Sekunden der Stille und steht auf. «Bitte Victoria, lass die Vergangenheit ruhen. Es ist nur zu deinem Schutz.»

Mit diesen Worten verlässt sie das Wohnzimmer. Evelyn betrachtet mich mit kaltem Blick und folgt ihr kurze Zeit später. Ich bleibe allein und mit brennenden Augen stehen. Mein Herz rast und droht jede Sekunde aus meiner Brust zu springen. Es fühlt sich an, als hätte es kein Platz mehr und raubt mir mit jedem Pochen ein Stück weiter den Atem. Das war’s dann also. Mama hat sich offensichtlich von mir abgewendet. Sie hat ihre eigene Tochter von sich gestossen und hat es noch nicht mal versucht zu verhindern. Mein Mund ist trocken und der Klos in meinem Hals ist inzwischen so gross geworden, dass ich vermutlich daran ersticke, sollte ich nicht möglichst schnell aus diesem Haus verschwinden. Mit schnellen Schritten begebe ich mich in Richtung Haustür und verlasse das mir einst vertraute Heim.

Sobald mir der kalte Wind um die Ohren peitscht und die Kälte in mein innerstes vordringt kann ich es nicht mehr zurückhalten. Die Tränen rollen mir unaufhaltsam über die Wangen und verschwimmen meine Sicht auf das, was vor mir liegt. Aber es ist mir egal, ob ich nichts mehr sehe. Ich will nur noch weg von hier. Weit, weit weg. Ich beginne zu rennen, immer weiter und weiter. Durch das Gartentor auf die Strasse hinaus, zwischen den Seitengassen durch die Stadt, bis ich schlussendlich nicht mehr weiss wo rechts und links ist. Ich habe vollkommen die Orientierung verloren und renne einfach weiter, immer weiter, bis meine Beine und meine Lunge zu brennen beginnen und ich plötzlich von einem lauten Hupen zum Stehen gebracht werde. Die Welt um mich herum dreht sich. Himmel und Erde verschwimmen. Die Nacht wird zum Tag, weil mir zwei mit rasanter Geschwindigkeit grosse Lichter entgegenkommen, die so hell strahlen wie die Sonne. Glassplitter fliegen durch die Luft und schliesslich lande ich mit einem stechenden Schmerz an der Schläfe auf dem kalten Asphalt. Ich erkenne noch, wie mehrere Personen auf mich zu rennen, die Stimmen um mich herum dumpf werden und sich die Welt in absolute Finsternis hüllt.

Mein Schädel pocht und mir ist übel. Mit geschlossenen Augen fasse ich mir an die schmerzende Stelle an meinem Kopf. Als ich die Stelle berühre, zucke ich vor Schmerz zusammen und stöhne leise.

«Nicht anfassen», höre ich eine vertraute Stimme neben mir flüstern. Langsam öffne ich die Augen, schliesse sie aber gleich wieder, weil das grelle Licht mich blendet.

«Wo bin ich?», frage ich müde und wage nochmals den Versuch, die Person neben mir anzusehen. Dieses Mal gewöhnen sich meine Augen etwas besser an das helle Licht. Jessica sitzt neben meinem Bett auf einem Stuhl und blickt mit roten und geschwollenen Augen zu mir hoch. Sie hat geweint. Ihre Wimperntusche ist verschmiert und ihre Wimpern verklebt. Ich blicke mich in dem Raum um und bemerke, dass ich in einem Krankenbett liege. An meiner rechten Hand haben sie eine Infusion gesteckt und mein linker Zeigefinger ist in einem komischen Gerät eingequetscht.

«Du bist im Krankenhaus», höre ich Jessica dumpf antworten. «Du bist von einem Auto angefahren worden und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufgeprallt.»

Verwirrt runzle ich die Stirn und kneife meine Augenbrauen zusammen, weil ich mich mit aller Kraft versuche daran zu erinnern. Aber meine Erinnerung ist dunkel und verschwommen. Auf der anderen Seite meines Bettes steht ein kleiner Tisch mit einem Strauss weisser Lilien darauf.

«Die sind von Evelyn», erklärt mir Jessica und ich drehe blitzartig den Kopf wieder auf die andere Seite. Was keine gute Idee war, denn mein Kopf antwortet mir sogleich mit einem stechenden Schmerz. Wütend knurre ich vor mich hin und fasse mir dabei an die pochende Stelle.

«Was ist in dem Haus passiert, Victoria?»

«Das ist eine lange Geschichte», antworte ich ihr seufzend. In diesem Moment klopft es an der Tür. Jessica steht auf, öffnet sie und lässt die Person hineintreten. Liam und Niklas betreten den Raum und Liam bleibt ruckartig stehen, als er mich erblickt. Ich muss furchtbar aussehen. Mit meinem Ellbogen verdecke ich mir die Augen, in dem ich den Arm über das Gesicht lege.

«Herrgott Victoria, was ist passiert?», ruft Liam laut und eilt zu mir ans Bett.

«Nichts», erwidere ich müde. «Ich bin angefahren worden.»

«Ich würde das nicht als ‹Nichts› bezeichnen. Du hast glückgehabt, dass du nur mit ein paar Prellungen, Schürfwunden und einer Gehirnerschütterung davongekommen bist», faucht Jessica mich an. Niklas und Liam haben sich währenddessen einen Stuhl vom Tisch genommen und sich um das Bett verteilt. Jetzt fühle ich mich noch beobachteter als vorher.

«Von wem sind die Blumen?», fragt Niklas neugierig und wackelt mit den Augenbrauen. Dabei muss ich kichern, weil ich genau weiss, dass er vermutet, dass sie von einem Verehrer stammen. Leider ist dies nicht der Fall. Wäre auch zu schön gewesen.

«Von Evelyn», beantworte ich ihm seine Frage. Mit dieser Antwort haben wohl beide Herren nicht gerechnet, denn ihnen fällt gleichzeitig die Kinnlade nach unten. «Sie war gestern Abend bei Mama zu Hause.»

«Was?», ruft Liam entsetzt. «Mir hat sie erzählt, sie geht zu Robert. Was wollte sie bei deiner Mutter?»

Kurz muss ich überlegen, was ich darauf antworten soll. So genau weiss ich das ja schliesslich auch nicht. Und eigentlich möchte ich keine Behauptungen aufstellen. Immerhin ist Evelyn Liams Tante. Auch wenn er sie nicht sonderlich mag, ist sie trotzdem Teil seiner Familie. Schliesslich entscheide ich mich aber doch, meine Befürchtung zu äussern.

«Ich glaube, sie wollte Mama bestechen», murmle ich leise und setze mich in meinem Bett auf. Jessica hilft mir mein Kissen zurecht zu rücken, damit ich besser anlehnen kann.

«Wieso bestechen? Wofür?», fragt sie mit grossen Augen.

«Ich weiss es nicht. Aber ich bin mir sicher, dass es mit meinem Vater zu tun hat. Besser gesagt mit seinem Tod.»

«Wie kommst du darauf?», erwidert Niklas.

«Es ist nur so ein Gefühl. Mama wollte mir nie etwas über den Tod meines Vaters erzählen. Ich wusste bis vor kurzem nicht mal, dass er hier in Meeso begraben ist. Und als ich gestern Abend den Check von fünfzigtausend Franken gesehen habe und Evelyn meinte, es wäre für ein Bild meines Vaters, war mir klar, dass hier etwas nicht stimmte. Die Bilder stehen mir zu. Das ist im Testament von Papa hinterlegt.»

«Und was hat deine Mutter dazu gesagt?», fragt Jessica angespannt und bindet sich hastig die Haare zu einem unordentlichen Knoten.

«Sie meinte, ich solle die Vergangenheit ruhen lassen und dass es nur zu meinem Schutz wäre», schnaube ich und verdrehe die Augen. Liam hat die Ellbogen auf seinen Knien abgestützt und sein Gesicht in den Händen vergraben. Schliesslich richtet er sich auf und fährt sich nervös mit der Hand durchs Haar. Auch Niklas scheint sich nicht ganz wohlzufühlen und wippt mit seinem Bein auf und ab.

«War Mama auch hier?» Ich wende mich mit meiner Frage an Jessica und warte gespannt auf ihre Antwort. Sie schüttelt den Kopf und ein Schatten fällt über ihr Gesicht.

«Das Krankenhaus hat mich angerufen und ich bin direkt hierhergekommen. Unterwegs habe ich bei Amanda angerufen, aber sie hat das Telefon nicht abgenommen. Also habe ich ihr eine SMS geschrieben. Bis jetzt hat sie nicht geantwortet.»

«Aber woher wusste dann Evelyn, dass ich hier bin?», frage ich irritiert und blicke erneut zu den weissen Blüten. Meine drei Freunde blicken sich ratlos an. Offenbar wurde Evelyn von niemandem aus dieser Runde informiert. Müde rutsche ich wieder nach unten und schliesse die Augen. Das wird mir alles zu viel. Ich höre noch, wie Jessica mir etwas zuflüstert und sich nach ein paar Sekunden die Tür öffnet und wieder schliesst. Meine Gedanken kreisen um den Vorfall in meinem Elternhaus und bescheren mir kuriose Träume. In der Nacht wache ich mehrmals auf, komplett durchnässt und muss zwei Mal das Personal bitten, mir aus den nassen Sachen zu helfen. Um drei Uhr früh falle ich dann endlich in einen tiefen Schlaf, ohne von den gestrigen Ereignissen verfolgt zu werden.

Der Arzt füllt gerade die letzten Formulare aus und verabschiedet sich nach einer kurzen Untersuchung von mir. Heute darf ich nach Hause. Sie haben mich zur Sicherheit noch eine weitere Nacht im Krankenhaus behalten, weil meine Gehirnerschütterung doch etwas stärker war als zuvor angenommen. Die nächste Woche bin ich krankgeschrieben und muss mich weiter ausruhen. Dabei fühle ich mich schon fast wieder fit.

Ich hüpfe von meinem Bett, greife meine Tasche und verlasse das Zimmer. Hastig suche ich den Ausgang aus diesem Labyrinth, weil ich Krankenhäuser verabscheue. Nicht, weil ich sie nicht wichtig finde, sondern weil ich immer Angst davor habe, etwas Grauenhaftes zu sehen. Schliesslich finde ich den Aufzug und fahre ins Erdgeschoss. Dort biege ich um die Ecke ab und folge dem blauen Pfeil am Boden in Richtung Ausgang. In der Eingangshalle sehe ich Jessica und Liam an einem Tisch Kaffee trinken. Sie unterhalten sich ausgiebig und müssen zwischendurch immer wieder laut lachen. Ich hätte nie gedacht, dass die zwei sich mal so gut verstehen würden.

«Na ihr beiden?», begrüsse ich sie mit einem Grinsen. Jessica und Liam sehen gleichzeitig zu mir hoch. Jessica springt auf und zieht mich in ihre Umarmung. Ich umklammere die zierliche Gestalt vor mir und vergrabe mein Gesicht an ihrem Hals. In dem ganzen Tumult habe ich gar nicht bemerkt, wie einsam ich mich eigentlich fühle. Ich löse mich von Jessica und begrüsse auch Liam. Seine Brust hebt und senkt sich regelmässig. Heute ist er wohl sehr ausgeglichen.

Ich weiss nicht, wie ich nun weitermachen soll. Mama hat sich nicht gemeldet und ich fühle mich, als hätte ich nicht nur meinen Vater, sondern auch meine Mutter nun endgültig verloren. Traurig blicke ich über Liams Schulter auf den Boden. Liam tritt einen Schritt zurück und wischt mir mit seinem Daumen eine herunterrollende Träne von der Wange. Mitfühlend blickt er mir in die Augen und lächelt vorsichtig.

«Du bist nicht allein, Victoria», versucht er mich zu trösten. «Wir finden heraus was mit deinem Vater passiert ist. Und deine Mutter wird auch noch zur Vernunft kommen.» Jessica stimmt Liam nickend zu. Ich wische mir nochmals über die nassen Wangen, bevor wir zu dritt durch die gläserne Schiebetür nach draussen treten.

Ich bin bereits drei Tage zu Hause. Drei Tage ohne eine Aufgabe, ohne irgendetwas tun zu müssen. Jessica kümmert sich um mich als wäre ich sterbenskrank. Und auch Liam sieht jeden Tag einmal bei mir vorbei. Ich frage mich wirklich, was die beiden ohne mich in ihrem Leben den ganzen Tag tun würden.

Müde von dem vielen Nichtstun trotte ich in die Küche. Jessica hat bereits das Frühstück aufgetischt und giesst gerade frisch gebrühten Kaffee in zwei Tassen. Herrlich dieser Geruch am Morgen. Ich atme noch einmal tief ein und geniesse die Vorfreude auf den kommenden Adrenalinkick. Jessica reicht mir meine Tasse und ich trinke gleich einen grossen Schluck und stöhne genüsslich vor mich hin.

«Wie hast du geschlafen?», fragt sie mich und blickt mich musternd von der Seite an. Das macht sie mittlerweile jeden Morgen. Ich seufze, verdrehe die Augen und muss schlussendlich aber doch grinsen, weil es ja eigentlich eine süsse Geste ist.

«So wie jede Nacht. Gut», antworte ich ihr mit zuckersüsser Stimme und greife nach einem Stück Brot. «Ich gehe heute nochmals zu meiner Mutter.»

Jessica horcht auf und sieht mich mit bedrückter Miene an. «Soll ich mitkommen?»

«Nein, das muss ich allein machen.»

Nun stehe ich schon wieder vor meinem ehemaligen Zuhause. Je öfter ich hierherkomme, desto fremder erscheint mir dieses Gebäude. Die Fensterläden sind geschlossen. Ich klingle einmal und warte. Aber es öffnet niemand. Gerade als ich mich umdrehen und wieder gehen möchte, höre ich jemanden von der Seite sich räuspern. Frau Lehni steht in ihrem Garten und sieht zu mir hoch auf die Veranda. Ihre Haare sind nun komplett weiss geworden und sie muss sich am Stock abstützen.

«Guten Tag Frau Lehni», begrüsse ich sie freundlich und trete ein paar Schritte auf sie zu.

«Deine Mutter ist verreist», antwortet sie mir auf meine noch nicht gestellte Frage.

«Verreist? Wohin?», frage ich perplex und trete an das Geländer der Veranda heran.

«Keine Ahnung. Sie verliess das Haus vor ein paar Tagen mit drei Koffern und ist seit da an nicht wieder gekommen.»

Frustriert und enttäuscht lasse ich mich auf die Bank auf unserer Veranda fallen. Mama ist einfach abgehauen, ohne mir etwas zu sagen. Wieso ist sie so kühl geworden? Wieso diese Geheimnistuerei?

Jessica hat mir mal gesagt, dass man sich seine Familie aussuchen kann. Nur weil man Blutsverwandt sei, heisse das nicht, dass diese Person deine Familie sei. Eine Familie würde einen in jeder Situation unterstützen und für einen da sein. Damals habe ich ihre Worte nicht wirklich verstanden. Aber je weiter sich meine Mutter von mir entfernt, desto mehr beginne ich Jessicas Worten Glauben zu schenken. Und mittlerweile beginne ich immer deutlicher, meine wahre Familie zu erkennen.

Frau Lehni hat sich wieder in ihr Haus zurückgezogen. Der kalte Wind bläst durch die verlassene Veranda und wirbelt vertrocknete Blätter vom Boden auf. Noch ein letztes Mal blicke ich zurück und fasse einen Entschluss. Wenn Mama sich nicht meldet und ihr Verhalten erklärt, sehe ich keinen Grund mich weiter um sie zu kümmern und ihr beizustehen. Jetzt ist sie an der Reihe und wenn sie möchte, dass unsere Beziehung wieder aufgebaut wird, sollte sie schnell handeln.

Als ich zu Hause durch die Tür trete, höre ich mehrere Stimmen aus dem Wohnzimmer. Ich ziehe meine Schuhe und Jacke aus und betrete den Raum. Jessica, Liam und ein mir unbekannter Mann sitzen am Esstisch und unterhalten sich. Als Liam mich entdeckt, springt er von seinem Platz auf und eilt auf mich zu.

«Was ist hier los?», flüstere ich ihm zu. Liam wirkt aufgebracht und fährt sich nervös durchs Haar.

«Das ist Herr Kerr von der Polizei», erklärt er mir leise. Ich blicke den Mann unsicher an. Er sitzt neben Jessica und hat einen Notizblock vor sich liegen. Sein Gesicht ist finster, genauso wie seine dunkle Uniform.

«Sind Sie Victoria Ross?», fragt er mich mit ernstem Ton.

«Ähh ja», beginne ich stotternd und setze mich zur Gruppe an den Tisch. «Worum geht es?»

«Sie wurden vor wenigen Tagen angefahren. Stimmt das?»

«Ja, das ist korrekt», erwidere ich nickend. Jetzt verstehe ich auch, worum es hier geht. Vermutlich ist der Fahrer geflüchtet und die Polizei sucht nach ihm.

«Können Sie mir erzählen, was an diesem Abend geschehen ist?» Ich nicke und erzähle die Geschichte, so gut ich mich an diesen Abend erinnern kann. Herr Kerr schreibt sich jedes Detail auf und hält inne, als ich das Auto erwähne, welches ich flüchtig erkannt habe.

«War es ein schwarzer Mercedes?», fragt Herr Kerr und mustert mich prüfend. Ich atme hörbar aus und überlege. Mit Automarken habe ich mich noch nie ausgekannt. Dann fällt mir ein, dass bei Liam zu Hause ein solches Auto gestanden hatte.

«Ist das ein solches Auto, wie Evelyn eins fährt?», erwidere ich und blicke Liam fragend an.

«Ja, meine Tante fährt ein schwarzer Mercedes der C-Klasse.»

«Dann ja», beantworte ich Herr Kerr seine Frage. Zum Glück konnte ich mich wieder an ein paar wenige Details aus dieser Nacht erinnern. Nach ein paar weiteren Fragen verabschiedet sich der Polizist von uns und wünscht mir weiterhin gute Besserung.

«Ich muss euch etwas erzählen!», rufen Liam und ich gleichzeitig, sobald Jessica die Haustür geschlossen hat. Überrascht von unserem gleichzeitigen Ausruf starren wir uns mit grossen Augen an und setzen uns wieder an den Tisch.

«Lass mich raten, deine Mutter ist auch verschwunden?», fragt Liam und verschränkt die Arme vor der Brust.

«Ähm, ja», stottere ich ein wenig und runzle die Stirn. «Was heisst denn hier auch?»

Liam seufzt und lässt den Kopf in den Nacken fallen. «Evelyn hat heute die Koffer gepackt und ist verschwunden. Mir hat sie nicht gesagt, wohin sie geht. Und Robert weiss offenbar auch nichts. Wobei ich ihm nicht wirklich glaube.» Völlig perplex starre ich Liam an.

«Es scheint, als hättet ihr in ein Wespennest gestochen», wirft Jessica in die Runde und öffnet eine Flasche Wein. Ich lehne das Glas kopfschüttelnd ab und Liam ebenso. Schulterzuckend verschliesst Jessica die Flasche wieder und trinkt einen grossen Schluck der kalten Flüssigkeit. Danach leckt sie sich genüsslich die Lippen und wendet sich wieder unserer Konversation zu.

«Ich verstehe das alles nicht. Zuerst will Evelyn meiner Mutter eine Unmenge von Geld überweisen, dann werde ich angefahren und plötzlich verschwinden meine Mutter und Evelyn, ohne auch nur irgendjemandem Bescheid zu geben», rufe ich frustriert aus und stütze meinen Kopf auf meiner Hand ab.

«Mir ist das alles auch ein Rätsel», seufzt Liam. «Aber ich bin mir sicher, das hat mit deinem Vater zu tun. Und ehrlich gesagt denke ich, wir sollten diese Gelegenheit nutzen und beide Häuser auf den Kopf stellen. Hier ist irgendetwas faul!»

«Aber wo sollen wir beginnen? Ich kenne unser Haus in und auswendig. Da ist nichts! Hätte meine Mutter etwas versteckt, hätte ich es garantiert gefunden», antworte ich schnell. Es stehen so viele offene Fragen im Raum und eine brennt mir besonders auf der Zunge.

«Denkt ihr…», beginne ich zögernd, «Evelyn hat etwas mit meinem Unfall zu tun?»

«Das kann ich mir nicht vorstellen», antwortet Liam und rutscht tiefer in den Stuhl hinein. «Warum sollte sie? Sie hatte doch gar kein Motiv?»

«Und wenn doch?», nuschelt Jessica neben Liam vor sich hin. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf Jessica, weswegen sie nun lauter fortfährt: «Ich meine, was wenn diese fünfzigtausend Franken wirklich Bestechungsgeld für deine Mutter war? Und du Victoria hast davon mitbekommen. Das macht dich zur Bedrohung.»

«Aber warum sollte Evelyn meine Mutter bestechen? Wo liegt die Verbindung?», antworte ich seufzend. Ich fühle mich als würden wir uns gemeinsam gegen meine Mutter und Evelyn verschwören. So sehr das alles nach einem dramatischen Thriller scheint, habe ich trotzdem das Gefühl, dass wir uns hier etwas zusammenreimen. Aber was, wenn es doch stimmt?

«Bei deinem Vater», antwortet Liam ernst und erhebt sich. «Bei deinem Vater liegt die Verbindung. Ich denke es wird Zeit, dass wir Nachforschungen anstellen. Wir sollten im Haus von Evelyn beginnen.» Nach kurzem Zögern stimme ich schliesslich dem Plan zu.

Liam

Dieses Chaos stresst mich. Da tun die Erwachsenen immer so, als wären sie erwachsen und verhalten sich, wenn es ernst wird, wie kleine Kinder. Victoria und ich stehen in der Eingangshalle bei mir zu Hause und streifen unsere Schuhe von den Füssen. Ich verstaue sie im Schuhschrank und blicke mich um. Jessica hat sich entschieden, zu Hause zu bleiben. Sie würde uns aber unterstützen und zur Hilfe kommen, falls wir welche benötigen.

«Und jetzt?», fragt mich Victoria ratlos. Ich seufze und fahre mir nervös durch die Haare.

«Wir sollten in ihrem Büro anfangen», antworte ich entschlossen und steige die Treppen nach oben. Victoria folgt mir in schnellen Schritten. Wir biegen am Ende der Treppe in den rechten Gang ein und betreten das Büro auf der linken Seite. Evelyns Büro ist im Vergleich zum Rest des Hauses mit weniger Protz und Prunk versehen. Direkt vor der Tür steht der grosse Schreibtisch aus dunklem Holz. Den Laptop hat Evelyn wohl mitgenommen, weil er nicht wie sonst an seinem üblichen Platz steht. Darin können wir also nicht herumschnüffeln. Auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtischs erstreckt sich eine Wand aus Schränken und Kommoden. In der Ecke befindet sich die Tür zu Evelyns Schlafzimmer. Diese ist aber grundsätzlich immer verschlossen, genauso wie die Doppeltür in der Galerie, welche ebenfalls in ihr Schlafgemach führt. Ich blicke mich in dem düsteren Raum um und schalte die Lampen ein.

«Wonach sollen wir suchen?», murmelt Victoria vor sich hin und betrachtet die vielen Ordner, welche sich in dem raumhohen Gestell befinden.

«Nach Dokumenten, Notizen oder irgendetwas, was irgendwie mit deiner Familie zu tun haben könnte», antworte ich ihr und reisse den ersten Ordner aus dem Regal. Doch darin befinden sich nichts weiter als Rechnungen von Evelyns Immobilienfirma. Victoria zögert kurz, bevor sie den ersten Ordner herauszieht, gibt sich dann aber einen Ruck und setzt sich neben mich an den Schreibtisch.

Wir durchforsten jeden Zentimeter in diesem Raum. Jeden Ordner haben wir uns angesehen und nichts haben wir gefunden. Kein einziger Satz, kein einziges Dokument könnte irgendwie in Zusammenhang mit Victorias Familie stehen.

«Ich verstehe das nicht», seufze ich frustriert und rutsche tiefer in meinen Sitz hinein. «Wir haben alles durchwühlt und nichts gefunden!»

«Vielleicht lagen wir doch falsch mit unserer Vermutung?», flüstert Victoria kleinlaut. Ich schüttle den Kopf und blicke zu der verschlossenen Tür, die zu Evelyns Schlafzimmer führt.

«Wo versteckst du deine privaten Sachen?», rufe ich etwas lauter und blicke dabei tief in Victorias Augen.

«Das geht dich gar nichts an!», blafft sie und verschränkt die Arme vor dem Körper. Bei dieser Reaktion muss ich grinsen und rolle mit den Augen.

«Im Schlafzimmer natürlich!», beantworte ich meine Frage und springe von meinem Stuhl auf. In wenigen Schritten stehe ich vor der Tür. Ich greife nach dem Türknauf und möchte ihn drehen, doch es geht nicht. Die Tür ist verschlossen, wie vermutet. «Versuchen wir es bei der anderen Tür.»

Ich gehe Victoria voraus und laufe zurück zur Treppe. Evelyn hat das grösste Schlafzimmer im Haus. Früher gehörte dies meinen Eltern. Vor der Doppeltür in der Galerie bleibe ich stehen. Ich war bis jetzt erst einmal in diesem Zimmer. Evelyn mag es gar nicht, wenn jemand ihre heiligen vier Wände betritt. Abgesehen von Robert. Bei diesem Gedanken verziehe ich angeekelt das Gesicht. Zu meiner Enttäuschung ist auch dieser Eingang gesperrt. Frustriert schlage ich meine geballte Faust gegen das Holz.

«Wir können auch ein anderes Mal versuchen in ihr Schlafzimmer zu kommen», meint Victoria und setzt sich auf die oberste Treppenstufe.

«Gibst du immer so schnell auf?», lache ich und betrachte Victoria mit hochgezogenen Augenbrauen. Bei dieser Frage verziehen sich ihr Lippen zu einem Schmollmund und sie reckt ihr Kinn in die Höhe. Ich weiss, Frauen mögen das eigentlich gar nicht, wenn man sie in so einer Situation süss findet. Aber es sieht eben schon niedlich aus, wie sie trotzig auf dem Boden sitzt und versucht, ernst und seriös zu wirken.

Ich ziehe mein Telefon aus der Jackentasche und wähle die Nummer von Niklas. Nach dem zweiten Klingeln meldet er sich mit einem genervten «Was ist?»

«Wie knackt man nochmals das Schloss einer Tür?», stelle ich meine Frage und gehe dabei nicht auf seinen Tonfall ein. Vermutlich ist er gerade an einer Party und wird nur ungern gestört. Victoria bleibt bei dieser Frage der Mund offen und starrt mich fassungslos mit grossen Augen an.

«Du brauchst eine Karte. Verwende aber nicht deine Kreditkarte», antwortet mir Niklas, worauf ich mein Geldbeutel hervornehme. Victoria ist von ihrem Platz aufgestanden und tapst neugierig zu mir hin.

«Hier halt mal», murmle ich ihr zu, drücke auf Lautsprecher und reiche ihr mein Telefon.

«Du schiebst die Karte zwischen der Tür und dem Rahmen durch. Die Karte muss sich biegen, damit sie um die Ecke greifen kann. Sobald du einen Widerstand von der Schlossfalle spürst, kannst du versuchen diese nach innen zu drücken», fährt Niklas fort. Ich folge seinen Anweisungen haargenau.

«Wo befindet sich diese Schlossfalle?», frage ich ins Telefon. Am anderen Ende höre ich Niklas genervt ausatmen.

«Etwa zwei bis drei Zentimeter oberhalb des Türgriffs», beantwortet er aber schliesslich meine Frage. Ich versuche nochmals mit Druck die Tür zu öffnen. Nach dem dritten Versuch klappt es endlich und die Tür springt auf.

«Danke Bro, hast was gut bei mir», lache ich ins Telefon und verabschiede mich von Niklas. Victoria blickt mich mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite an.

«Macht ihr das in eurer Freizeit?», ruft sie schockiert und deutet dabei auf das Schloss. Ich grinse und zucke dabei mit den Schultern. Dann stosse ich die Tür auf und lasse Victoria eintreten.

Das Schlafzimmer von Evelyn könnte schon fast als Suite durchgehen. Vor uns steht ein schwarzes Ledersofa, welches zur linken Wand gedreht ist. Dort hängt ein überdimensional breiter Flachbildschirm und unter ihm steht eine kleine Kommode. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein Torbogen zu Evelyns Ankleidezimmer. Ich frage mich wirklich, wozu Frauen so viele Klamotten und Schuhe brauchen. Das grosse Himmelbett steht in der rechten hinteren Ecke und ist mit Millionen von Zierkissen bestückt. Uns gegenüber auf der anderen Seite des Raumes erstreckt sich eine grosse Fensterfront und lässt einen atemberaubenden Blick auf den Garten werfen. Ansonsten ist das Zimmer relativ leer. Evelyn hat zwar viele Skulpturen und Pflanzen im Zimmer, dafür fast keine privaten Gegenstände.

Victoria stösst leise einen Pfiff aus als sie vor dem grossen Bett steht.

«Ich hätte ehrlich gesagt etwas mehr…», beginnt sie kritisch und bricht dann aber im Satz ab.

«Etwas mehr?», hake ich nach und warte darauf, dass Victoria ihren Satz beendet.

«Etwas mehr Protz erwartet», antwortet sie schliesslich voller Ironie und dreht sich einmal um ihre eigene Achse. Bei ihrer Aussage muss ich auflachen.

«Ja, Evelyn liebt es viele, teure und grosse Dinge zu besitzen», erkläre ich Victoria und lehne mich mit dem Rücken an die Glasfront. Dabei fällt mein Blick auf die kleine Nachttischkommode neben Evelyns Bett. Insbesondere das Schloss an der oberen Schublade weckt meine Neugier. In wenigen Schritten erreiche ich das kleine Möbelstück und gehe davor in die Hocke.

«Ich glaube verschlossene Dinge zu öffnen gehört ab heute zu meinen Lieblingsbeschäftigungen», flüstere ich Victoria zu und wackle dabei verführerisch mit meinen Augenbrauen. Sie kichert leise und geht um das Bett herum auf mich zu. Gerade als ich eine neue, noch nicht verbeugte Karte aus meinem Geldbeutel nehmen möchte, höre ich von unten die Haustür zuschlagen. Erschrocken starren Victoria und ich uns an. Ich hebe einen Finger an die Lippen und deute ihr, hier in der Hocke zu verweilen. So leise ich kann sprinte ich zur Tür und werfe einen Blick zum Eingangsbereich. Evelyn streift sich gerade ihre Jacke ab, wobei sie ihr Telefon in ihre andere Hand legen muss. Dann presst sie es sich wieder ans Ohr und gestikuliert dabei wild mit ihren Händen. Ich deute Victoria herzukommen und möchte gerade mit ihr aus dem Zimmer verschwinden, als ich Evelyn höre die Treppe hinaufsteigen. Dieser Fluchtweg ist wohl somit vernichtet worden, denn sie würde uns garantiert sehen. So leise ich kann schliesse ich die Doppeltür.

«In das Ankleidezimmer!», flüstere ich Victoria zu und wir verschwinden in dem Raum nebenan.

«Was ist, wenn sie etwas bemerkt? Die Tür war doch abgeschlossen», antwortet sie mir panisch und rauft sich die Haare. Schnell verstecken wir uns in einem der Schränke. Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Moment betritt Evelyn das Schlafzimmer. Victoria und ich stehen uns zwischen Mänteln und Kleidern eng aneinander gegenüber. Ich kann ihr schnelles Herzklopfen deutlich an meiner Brust spüren. Ihre Atemzüge sind zittrig und sie zappelt ein wenig mit ihren Beinen. Schnell greife ich nach ihrer Hand und drücke sie leicht, in der Hoffnung, ihr damit die Angst zu nehmen.

Evelyn schliesst die Tür und faucht ihren Gesprächspartner am Telefon an.

«Wie oft muss ich dir noch sagen, du sollst meine Schlafzimmertür abschliessen, wenn du gehst?», brüllt sie ins Telefon hinein. Das Klimpern von Schlüsseln endet in einem lauten Klirren, weil sie vermutlich die Schlüssel auf den Glastisch vor dem Sofa geworfen hat.

«Du hast dich nicht an unseren Plan gehalten», fährt Evelyn gereizt fort. «Du hättest deinen Wagen nehmen müssen, nicht meinen. Ich musste das Auto heute in der Schrottpresse zu einem Haufen Blech zusammenquetschen lassen.» Victoria und ich sehen uns verwirrt an, hören aber weiterhin wie gebannt der Konversation zu.

«Wenn sie die Wahrheit herausfinden, nehme ich dich mit in den Knast!», schreit Evelyn ins Telefon. Dann wird es plötzlich hell im Raum. Erschrocken drehen Victoria und ich den Kopf Richtung Schranktür. Hoffentlich muss Evelyn nichts aus diesem Schrank haben, bete ich mit zusammengekniffenen Augen. Sie stöckelt in ihren Absatzschuhen vor unserem Versteck vorbei und bleibt am Ende des Raumes stehen. Nun ertönt eine männliche Stimme im Raum, vermutlich weil sie ihren Gesprächspartner auf Lautsprecher geschalten hat.

«Jetzt krieg dich mal wieder ein!», höre ich Roberts Stimme rufen. «Amanda ist erstmal aus dem Rennen. Und woher sollten die Kinder davon erfahren? Hast du die Dokumente im Safe versteckt?»

Irritiert schüttle ich den Kopf. Ich frage mich, von welchem Safe die Rede ist. Noch nie habe ich einen hier im Haus entdeckt. Aber diese Frage wird sich sicher gleich klären, denn so wie es klingt, ist der Safe hier in diesem Raum. Das würde auch erklären, wieso ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen habe.

«Bin gerade dabei», antwortet Evelyn grimmig. Dann ist ein kurzer Moment absolute Stille im Raum. Victoria hält sich die Hand vor den Mund. Vermutlich damit man sie nicht atmen hört. Auch ich halte den Atem an und höre nur noch ein Pochen in meinen Ohren. Dann aber ertönt ein Kratzen und etwas schweres wird auf den Boden gestellt. Zu gerne würde ich den Kopf aus dem Schrank strecken, um zu sehen, was Evelyn hier bastelt. Es erklingen mehrere aufeinanderfolgende Töne, welche mit einem lauten Klacken verstummen. Ich frage mich, ob dies die Zahlenkombination für den Safe war. In Gedanken versuche ich die Anzahl Töne nochmals aufzurufen und sie zu zählen. Aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob es nun sechs oder sieben waren. Viel Zeit zum Nachdenken bleibt mir jedoch nicht, weil meine Gedanken durch die nervige Stimme von Evelyn verdrängt werden.

«Ich habe sie gerade hineingelegt», beantwortet sie Roberts Frage.

«Gut. Und Liam kennt die Kombination nicht?»

«Was denkst du denn?», blafft Evelyn und schlägt den Safe wieder zu. «Dann könnte ich ja gleich zu ihm hingehen und ihm die ganze Geschichte erzählen. Liam darf nie davon erfahren!»

«War nur eine Frage», antwortet ihr Robert auf die gereizte Aussage. Evelyn verlässt den Raum wieder, spricht aber weiterhin ins Telefon. Robert ist jedoch nicht mehr zu hören.

«Ich mache mich jetzt auf den Weg und bin in einer halben Stunde bei dir.» Mit dieser Aussage verlässt sie ihr Schlafzimmer und Victoria und ich können endlich aufatmen.

Kapitel 6

Liam

Wir verharren noch ein paar wenige Minuten lautlos in unserem Versteck. Sobald ich sicher bin, dass wir wieder allein sind, trete ich die Schranktür auf. Erschöpft lasse ich mich auf die lederne Bank in der Mitte des Raumes nieder und reibe mir meine Augen. Ich kann nicht fassen was ich da gerade gehört habe. Ich dachte, hier geht es um Victorias Eltern.

«Was habe ich plötzlich mit dieser Geschichte zu tun?», frage ich entrüstet und werfe die Hände in die Luft. Victoria tritt langsam aus dem Schrank heraus und setzt sich neben mich hin.

«Tut mir leid, dass ich dich da mitreingezogen habe», flüstert sie leise neben mir. Mit gerunzelter Stirn wende ich meinen Blick auf ihre zappelnden Hände.

«Du hast nichts falsch gemacht», versichere ich ihr und drücke leicht ihre Schulter. Victorias Gesichtsausdruck hat sich zu einer schmerzerfüllten Miene verändert, weswegen sie sich von mir abwendet. Ich atme hörbar aus und nehme die schluchzende Gestalt neben mir in den Arm. Sie umklammert mein Pullover mit beiden Händen und vergräbt ihr Gesicht an meiner Brust. Ich fahre ihr mit der Hand über ihr samtweiches Haar. Ihr Körper bebt und es scheint, als hätte sie all diese Gefühle in sich aufgestaut und gestattet ihnen nun endlich an die Oberfläche zu kommen.

Nach ein paar Minuten verstummt das Schluchzen und ihre Brust beginnt sich wieder in einem regelmässigen Rhythmus zu bewegen. Noch immer halte ich mit meiner rechten Hand ihren Kopf und mit der linken streichle ich ihr behutsam über den Rücken. Nun hebt sie den Kopf und blickt mir geradewegs in die Augen. Mir ist bisher nie aufgefallen, dass sich in ihrer rechten Iris ein grüner Fleck inmitten der haselnussbraunen Farbe befindet. Ihre Lippen sind leicht geöffnet und glänzen feucht. Kurz überlege ich, sie zu küssen. Aber dann verwerfe ich den Gedanken gleich wieder, weil mich irgendetwas, tief in mir, davon abhaltet. Auch Victoria scheint den gleichen Impuls zu spüren und löst sich aus meiner Umarmung. In diesem Moment verschwindet die Wärme, die sich in meinem Herzen ausgebreitet hat. Dieses Gefühl habe ich schon so lange nicht mehr verspürt. Und ich kann es nicht einordnen, ob das nun ein Gefühl von Zuneigung im sexuellen Sinne war, oder ob mir einfach ihre Nähe als Freundin guttut.

Victoria räuspert sich kurz und blickt sich dann in dem Raum um.

«Wir sollten diesen Safe suchen», murmelt sie leise und beginnt in dem Zimmer herumzulaufen. Nach kurzem Zögern erhebe ich mich ebenfalls. Das Ankleidezimmer hat im hinteren Bereich viele Kommoden und dazwischen stehen vereinzelt Taschen und Schuhe. In der Mitte über einer solchen Kommode hängt ein Gemälde von Evelyn, wie sie auf einem grossen Stuhl sitzt und ein Diplom in den Händen hält. Das Ölgemälde hat sicher mehrere Tausend Franken gekostet. Mit kritischem Blick betrachte ich das eingerahmte Bild und muss dabei, ohne es zu beabsichtigen, mein Gesicht verziehen.

«Als wäre sie eine Adlige», ergänzt Victoria meine Gedanken und tritt neben mich. Bei diesem Kommentar kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.

«Das wäre sie wohl gerne», schnaube ich verächtlich und wende mich ab. Ich durchsuche eine weitere Kommode und bemerke, dass ich eine Schublade mit den Dessous von Evelyn gefunden habe, weswegen ich sie schnell mit angewidertem Blick wieder schliesse.

«Findest du nicht, dass dieses Gemälde etwas schief an der Wand hängt?», fragt mich Victoria und legt den Kopf schief auf die rechte Seite. Ich tue es ihr gleich. Und tatsächlich, das Gemälde ist nicht gerade. Kurz entschlossen greife ich nach dem hölzernen Rahmen und nehme das Bild von der Wand. Dahinter erscheint ein kleiner grauer eingebauter Kasten. Das Display leuchtet blau und die Tasten mit den Ziffern ebenso.

«Du hast ihn gefunden!», rufe ich voller Euphorie und strahle Victoria mit leuchtenden Augen an.

«Jetzt müssten wir nur noch die Zahlenkombination wissen», murmelt Victoria und sieht mich fordernd an. Ich ahne schon, worauf dies hinausläuft. Doch leider habe ich keine Ahnung, was das für eine Zahlenkombination sein könnte.

«Ja das wäre von Vorteil», stimme ich ihr zu und fahre mir mit der Hand durchs Haar. «Ich versuche mal den Geburtstag von Evelyn.» Nach den sechs bekannten Klängen ertönt ein langer hoher Ton, welcher die falsche Eingabe des Codes signalisiert.

«Das wäre auch zu schön gewesen», seufze ich und blicke ratlos in Victorias Richtung. «Ich glaube, so kommen wir nicht weiter. Ich brauche mehr Zeit zum Überlegen, welches die möglichen Kombinationen sein könnten. Aber ich vermute, dass könnte eine Weile dauern. Auch wenn Evelyn meine Tante ist, kenne ich ihr Privatleben nur begrenzt.»

Victoria stimmt mir brummend zu und sieht auf ihre Armbanduhr.

«Es ist auch schon spät», ergänzt sie und streckt sich. «Diese ganze Spionageaktion hat mich ganz schön erledigt. Möchtest du noch mit zu mir kommen?»

«Ich habe mich noch mit Niklas in der Stadt verabredet», beantworte ich Victoria ihre Frage und lächle ihr zu. Sie erwidert das Lächeln scheu und wendet sich dem Ausgang zu.

Victoria

Liam hat mich noch bis zu meiner Haustür begleitet und sich danach in Richtung Bushaltestelle bewegt. Oben in der Wohnung entdecke ich Jessica, tief schlummernd, auf dem Sofa. Das leuchtende Display des Laptops erhellt den dunklen Raum. Ich schliesse ihn und decke Jessica mit einer Decke zu. Vermutlich wird sie sich morgen früh furchtbar darüber aufregen, dass sie sich nicht ins Bett gezwängt hat, und deswegen nun schreckliche Rückenschmerzen hat.

In meinem Zimmer streife ich etwas ungeschickt meine Hosen ab und ziehe mir meinen kratzenden Pullover über den Kopf. Eigentlich möchte ich so schnell wie möglich ins Bett, aber ich sollte dringend meine Haare waschen. Murrend schlurfe ich in Unterwäsche ins Bad und stelle mich unter die warme Dusche. Während das Wasser mir den Rücken hinunterläuft, denke ich über die vergangenen Stunden nach. Offenbar steckt Evelyn wirklich hinter meinem Unfall, wobei anscheinend Robert gefahren ist. Wie kann ein Mensch nur zu einer solchen Tat fähig sein? Abgesehen davon kenne ich Robert nicht einmal. Er hätte überhaupt kein Grund dazu, mich über den Haufen zu fahren. Aber das hat er. Was ich aber nicht verstehe ist, wieso Evelyn mir Blumen geschickt hat, wenn sie doch dahintersteckt? Vermutlich sollte es eine Irreführung sein und von ihr ablenken.

Mit tropfenden Haaren kehre ich zurück in mein Zimmer. Ich wickle mir ein Tuch um den Kopf und creme meinen Körper mit frisch duftender Bodylotion ein. Danach streife ich mir ein T-Shirt über den Kopf, ziehe frische Unterwäsche an und krieche unter die Decke. Nach wenigen Minuten fallen mir die Augen zu.

Am nächsten Morgen fällt mir auf, dass ich gestern Abend mit dem Handtuch um den Kopf eingeschlafen bin, was keine gute Idee war. Meine Haare sind ein einziges Chaos und es haben sich einige Knöpfe darin gebildet. Knurrend kämme ich mir die Haare und pflege sie mit einem nährenden Öl.

Im Wohnzimmer entdecke ich Jessica, wie sie sich auf ihrer Yogamatte verrenkt und zwischendurch streng die Augenbrauen zusammenzieht.

«Na hast du gut geschlafen?», begrüsse ich sie mit einem teuflischen Kichern und schiebe mich an ihr vorbei in die Küche.

«Mein Rücken war noch nie so verspannt wie heute», seufzt Jessica und wechselt die Position.

«Hast du schon gegessen?», frage ich, während ich mir ein Glas Orangensaft einschenke. Jessica richtet sich auf und kommt kopfschüttelnd zu mir in die Küche.

«Habt ihr gestern etwas herausgefunden?» Sie blickt mich skeptisch von der Seite an. Ach herrje, das habe ich ihr noch gar nicht erzählt.

Am Tisch beisse ich zuerst in mein Honigbrötchen und überlege mir, wo ich beginnen soll, die Geschichte zu erzählen. Mit jedem Bissen wird Jessica ungeduldiger und wippt mit ihrem Bein auf und ab. Schliesslich erzähle ich ihr in wenigen Worten, was passiert ist. Jessica nickt zwischendurch anerkennend mit dem Kopf oder hält sich schockiert die Hand vor den Mund. Als ich schliesslich zum Ende der Geschichte komme, kann Jessica gar nicht mehr aufhören, den Kopf zu schütteln und mich wütend anzustarren.

«Diese Schreckschraube!», ruft Jessica knurrend und bindet sich hastig die Haare zusammen. «Wenn sie dir auch nur einmal zu nahekommt, dann kann sie was erleben!»

«Evelyn sollte absolut nichts darüber erfahren, was Liam und ich herausgefunden haben. Sie würde es sowieso nicht zugeben. Und am Schluss würde sie nur alle Beweise vernichten.»

«Womöglich hast du recht», antwortet mir Jessica leise. «Wie geht Liam damit um?»

«Ich weiss es nicht», seufze ich. «Ich glaube ganz in Ordnung, aber er dachte, wie ich, dass es hier um meine Familie geht. Nun ist auch er plötzlich mitten im Chaos und ich glaube, das nagt an seinen Nerven.»

«Das kann ich absolut verstehen», antwortet Jessica und nickt stark mit ihrem Kopf auf und ab. Sie schenkt sich gerade ihre zweite Tasse Kaffee ein und betrachtet mich forschend. Ich beisse auf meiner Unterlippe herum, weil ich nicht weiss, ob ich Jessica noch mehr von gestern erzählen soll. Diese knisternde und geladene Energie zwischen Liam und mir, hat mir in der Nacht noch einige kuriose Träume bereitet. Ich frage mich, ob auch er sich überlegt hat, mich zu küssen. Irgendwie bin ich enttäuscht, dass er es nicht getan hat. Aber irgendwie auch froh darüber. Ich hätte nicht gewusst, wie ich diesen Kuss einordnen sollte.

Als Jessica merkt, dass ich nichts mehr zu ergänzen habe, erhebt sie sich und beginnt die Küche aufzuräumen. Diesmal bin ich wirklich froh, dass sie nicht weiter nachhakt. Vermutlich hätte sie nur zu gerne mehr Details erfahren und ich nehme auch an, dass sie genau weiss, dass ich noch mehr zu erzählen habe. Aber ich kann und will im Moment nicht mit ihr über Liam sprechen. Erst muss ich Ordnung in meinem Kopf schaffen und erst dann kann ich mit anderen darüber sprechen.

Jessica verschwindet aus der Küche, kommt aber gleich darauf mit einem weissen Umschlag in der Hand zurück.

«Der Brief ist heute für dich angekommen.» Sie wirft mir den schmalen Streifen Papier zu und verzieht sich in ihr Zimmer. Ich betrachte den Brief skeptisch und vermute, dass sich darin wohl schon wieder eine Rechnung befindet. Erwachsen sein ist wirklich mühsam. Jeder will Geld von mir. Seufzend öffne ich den Umschlag mit meinem Finger und ziehe das zusammengefaltete Papier heraus. Es ist ein handgeschriebener Brief. Als ich den Absender lese, bleibt mir der Atem weg und mein Herz beginnt zu rasen, als ich die ersten Zeilen beginne zu lesen.

Geliebte Victoria,

Ich weiss, du hast zurzeit viele Fragen im Kopf und möchtest die Antworten darauf erfahren. Doch leider kann ich dir nicht helfen. Ich bitte dich, lass die Sache mit deinem Vater ruhen. Es ist nur zu deinem Schutz. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, sondern nur versuchen, daraus zu lernen und zu akzeptieren, was passiert ist. Das versuche ich nun.

Evelyn hat mir erzählt, dass du einen Unfall hattest, sie jedoch ein Auge auf dich wirft, um sicher zu gehen, dass es dir gut geht. Ich vertraue ihr und hoffe, du kannst es auch. Zurzeit bin ich nicht im Land sondern in Südamerika. Mir geht es gut, bitte mach dir keine Sorgen. Es tut mir leid, dass ich einfach so abgehauen bin, ohne dir ein weiteres Wort zu sagen. Doch es war notwendig unter diesen Umständen. Bitte denk nicht schlecht von mir. Du kannst natürlich jederzeit nach Hause. Ich habe dir im Umschlag den Hausschlüssel mitgeschickt.

Ich habe dich lieb.

Mama

Ich kann nicht fassen, was ich da gerade gelesen habe. Die Tränen rollen mir unaufhaltsam über die Wangen und ein leises Schluchzen entfährt aus meiner Kehle. Ich höre, wie sich die Zimmertür von Jessica öffnet und sie mit besorgter Miene zu mir hereilt. Ohne ein Wort zu sagen, nimmt sie mich in den Arm und hält mich fest.

«Dort hinten sind sie!», ruft mir Jessica über die Schulter zu und geht mit schnellen Schritten in die Ecke der Bar. Liam und Niklas sitzen in der Lounge und stossen gerade mit ihren zwei Bierflaschen an. Nach meinem mentalen Zusammenbruch meinte Jessica, ich könnte etwas Ablenkung gebrauchen. Vermutlich wäre es völlig egal gewesen, ob ich ihr zustimmte oder nicht. Sie hätte mich so oder so aus der Wohnung geschleift, ganz gleich wie meine Antwort auch gewesen wäre.

Wir begrüssen die beiden Herren mit einer Umarmung und setzen uns zu ihnen.

«Wo sind James und Mira?», fragt Jessica und blickt sich suchend in der Bar um.

«An der Bar», antwortet ihr Niklas und deutet auf zwei lachende Gestalten hinter uns. James trägt seine schwarz karierten Bundfaltenhosen und ein weisses Hemd dazu. Er sieht wirklich toll aus. Neben ihm lehnt Mira an der Bar. Ihr enges schwarzes Kleid und ihre gleichfarbigen Strümpfe lassen ihre helle Haut und ihren blonden Schopf erstrahlen. Der Barkeeper betrachtet sie mit einem verstohlenen Lächeln und schiebt ihr ein grosses Glas mit weisser Flüssigkeit zu.

«Seid ihr schon lange da?», frage ich Niklas und Liam und deute auf die vielen leeren Flaschen auf dem Glastisch vor uns. Offenbar haben sie schon einiges an Vorsprung, was den Alkoholpegel anbelangt.

«Wir doch nicht!» Empört legt Niklas seinen Arm um Liam und schenkt mir ein breites Grinsen. In diesem Moment kommen James und Mira zu uns an den Tisch. Mira fällt mir förmlich um den Hals, als sie mich entdeckt. Ihre Augen leuchten und eine Wärme geht von ihnen aus.

«Na dann, auf einen unvergesslichen Abend!», ruft James aus, als Jessicas und mein Glas auf dem Tisch Platz gefunden haben, und prostet uns zu.

Vier Stunden später, nach unzähligen Getränken und Shots, grölen wir laut auf unseren Plätzen. Die Aufregung der letzten Tage hat sich gelegt und ich kann endlich etwas entspannen. James und Jessica knutschen bereits seit einer halben Stunde auf dem Sofa herum. Ein Wunder, dass sie die Kleider noch tragen, so wie sie übereinander herfallen.

«Geht ihr nachher noch weiter?», frage ich in die Runde und blicke dabei unsicher in jedes einzelne Gesicht. Mittlerweile bin ich müde geworden und möchte eigentlich gemütlich auf dem Sofa mich in eine Decke einwickeln. Aber nicht nur das ist der Grund für meine Frage. Wir sind in der Stadt und der letzte Bus fährt in einer halben Stunde. Dabei fällt mir in meiner Jackentasche der Schlüssel meines Elternhauses auf.

«Wir könnten noch zu mir. Unser Haus ist nicht weit von hier entfernt», ergänze ich, weil keine Antwort von meinen Freunden kommt.

«Oh eine Übernachtungsparty!», kreischt Mira freudig und klatscht dabei in ihre Hände.

«Klingt gut. Hast du genug Platz für uns alle?», fragt James und drückt leicht Jessicas Knie. Die beiden verfrachte ich definitiv ins Gästezimmer in der hintersten Ecke des Hauses. Ich nicke James zu und beginne meine Jacke anzuziehen. Zum Glück zieht der Rest mit, ohne grosse Einwände einzulegen. Wir verlassen die Bar und betreten die volle Gasse, in der sich weitere betrunkene und leichtbekleidete Frauen aufhalten. Wir gehen die Hauptstrasse entlang und biegen nach wenigen Minuten in eine Seitenstrasse ein, in der es ruhiger zu und her geht. An einer Ecke bleibe ich stehen, weil ich mich an den Unfall vor ein paar Tagen erinnere. Irgendwo hier hätte es sein müssen. Aber ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern. Mira hackt sich bei mir ein und zieht mich mit sich, weswegen meine Gedanken an den Vorfall sich gleich wieder in Luft auflösen. Jessica hat die Führung übernommen und kichert ununterbrochen neben James. Sie gehen Hand in Hand vor uns her. Sie wären wirklich ein süsses Pärchen.

«Ich kann auch deine Hand halten, wenn du willst», neckt mich Niklas und wackelt verführerisch mit den Augenbrauen.

«Nichts da!», mischt sich Mira ein und haut ihm auf die Finger. «Heute gehört Victoria mir.» Irritiert von diesem Interesse blicke ich zwischen den beiden hin und her.

«Habe ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden?», lache ich die beiden an und hacke mich auch bei Niklas unter. So gehen wir zu dritt in einer Reihe die Strasse entlang.

Zuhause haben wir es uns vor dem Kamin gemütlich gemacht und eine Flasche Wein geöffnet. Was gibt es Besseres als ein warmes knisterndes Feuer, süssen Weisswein und lachende Freunde?

«Hier bist du also aufgewachsen Victoria?», murmelt Niklas und blickt sich in unserem grossen Wohnzimmer um. «Seid ihr reich oder habt ihr einfach ein Händchen für edle günstige Möbel?» Bei diesen Worten muss ich grinsen.

«Man fragt Leute nicht wie viel Geld sie haben!», tadelt Mira ihn und streckt ihm die Zunge raus, weswegen ich gleich noch mehr lachen muss. Auch der Rest der Gruppe stimmt mit ein.

«Wir kommen gut über die Runden», beantworte ich seine Frage und nippe an meinem Glas. Dabei fällt mein Blick auf Liam. Auch er betrachtet mich forschend über den Rand seines Glases hinaus. Unsere Blicke treffen sich und in meinem Bauch beginnt es zu kribbeln. Ich verdränge das Gefühl, indem ich mich erhebe und aus der Küche ein Krug Wasser und Gläser hole. Wir sollten wirklich zwischendurch nichtalkoholische Getränke zu uns nehmen. Sonst endet der Abend nicht schön. Und an den Morgen danach möchte ich gar nicht erst denken. Gerade als ich den Wasserhahn abstelle und mich umdrehen möchte, steht Liam vor mir und grinst mich an. Beinahe wäre ich in ihn hineingelaufen, weswegen ich abrupt stehen bleibe und Wasser aus dem Krug auf den Boden schwappt. Liam greift sogleich nach einem Lappen und wischt den Fleck vor mir auf. Als er sich erhebt tritt er einen Schritt auf mich zu, weswegen sich unsere Oberkörper berühren. Ich kann sein rasendes Herz und seinen unregelmässigen Atem spüren.

«Wie geht es dir?», flüstert er mir ins Ohr. Seine Lippen streifen meine Wange. Himmel, gleich werde ich ohnmächtig. Kurz muss ich mich räuspern und trete vorsichtig einen Schritt zurück. Das ist nicht gut, was hier passiert. Zum einen würde ich am liebsten auf ihn springen, ihn leidenschaftlich küssen und meine Hände in seinem Haar vergraben. Aber wieder breitet sich ein unsicheres Gefühl in meiner Brust aus, was mich davon abhaltet. Ich umrunde ihn schleichend und antworte ihm über die Schulter: «Alles bestens. Gehen wir wieder zu den anderen.»

Ich lasse Liam in der Küche stehen und betrete das Wohnzimmer in schnellen Schritten. Jessica hat mich mit ihrem Blick fixiert und grinst teuflisch. Sie hat die Szene von eben beobachtet, das kann ich an ihrem Blick ablesen. Auch Niklas, James und Mira können sich ein Grinsen nicht verkneifen, senken aber den Blick als ich mich nähere.

«Wir würden uns langsam zurückziehen», erklärt Jessica und steht von ihrem Platz auf.

«Ihr könnt das Gästezimmer im ersten Stock haben. Du weisst welches, Jessica», antworte ich ihr und deute auf die Treppe im Eingangsbereich. Sie nickt und zieht James mit sich.

«Wir haben nochmals zwei Gästezimmer», ergänze ich und blicke dabei geradewegs in Miras Gesicht. Hoffentlich kann sie aus meiner Aussage herauslesen, dass sie bitte mit mir in einem Zimmer schlafen soll. Ich möchte nicht mit Niklas in einem Bett schlafen. Und schon gar nicht mit Liam, weil ich nicht weiss, wie der Abend dann endet. Sie scheint zu verstehen und wendet sich an die beiden Herren, welche sich gerade eine Zigarette drehen.

«Ihr könnt ein Gästezimmer haben. Ich schlafe heute bei Victoria.»

«Alles klar», antwortet ihr Niklas unbeeindruckt und erhebt sich. Liam folgt ihm in den Garten hinaus und schliesst die Glastür hinter sich.

Sobald das Schloss zufällt, flüstert mir Mira zu. «Läuft etwas zwischen dir und Liam?»

«Ich erzähle es dir nachher, wenn wir allein sind», erkläre ich ihr und räume die leeren Gläser vom Tisch. Niklas und Liam haben es sich auf der Veranda, welche in den Garten hinausführt auf den Gartenstühlen bequem gemacht und unterhalten sich leise. Ich muss ihnen noch sagen, wo ihr Zimmer ist, fällt mir ein und öffne die Schiebetür. Darauf verstummt augenblicklich die Konversation und beide blicken mich ertappt an. Ich versuche nicht weiter darauf einzugehen und erklären ihnen kurz, wo ihr Zimmer ist. Danach kehre ich zu Mira zurück und ziehe sie in den oberen Stock.

In dem kleinen Zimmer lasse ich mich erschöpft auf das Bett fallen. Zum Glück habe ich mich heute nicht geschminkt, weswegen ich die nächtliche Abendtortur im Badezimmer ausfallen kann. Ich reiche Mira ein paar Trainerhosen und ein T-Shirt aus dem Schrank und beginne auch meine Kleider zu wechseln. Sobald wir Bettfertig sind, kuscheln wir uns unter der Decke ein und drehen uns zueinander hin. Ich kann in ihren Augen erkennen, dass sie es kaum erwarten kann, von der knisternden Atmosphäre zwischen Liam und mir zu erfahren. Ich seufze und beginne, ihr von unserer ersten Annäherung im Ankleidezimmer von Evelyn zu erzählen. Doch schnell merke ich, dass ich die ganze Geschichte erläutern muss, weil es sonst noch komischer klingt, wieso wir im Kleiderschrank, Brust an Brust, geklebt sind. Mira bleibt bei der Geschichte der Mund offen und sie kichert immer wieder, sobald ich Liam erwähne.

«Du magst ihn», neckt sie mich und stupst mich mit dem Ellbogen an. Inzwischen haben wir uns auf dem Bett aufgesetzt und die Decken um uns gehüllt. Wir sehen vermutlich aus wie zwei kleine Haufen aufgepolsterter Stoff, aus dem nur der Kopf herausragt.

«Ja», seufze ich und vergrabe mein Gesicht in den Händen. «Aber weisst du, da ist etwas in mir, was mich davon abhält, den nächsten Schritt zu wagen. Ich dachte zuerst, Liam hatte das gleiche Gefühl, aber nach heute Abend bin ich mir nicht mehr so sicher.»

«Was wäre denn so schlimm daran, wenn etwas zwischen euch laufen würde?», fragt Mira nach und wartet gespannt auf meine Antwort. Tja, das ist eine gute Frage. Eingemummelt starre ich auf meine Hände und spiele mit meinen Ringen herum. Aber ihre Frage ist berechtigt.

«Bis jetzt konnte ich mich immer auf mein Bauchgefühl verlassen», antworte ich ihr schliesslich zögernd.

«Manchmal täuscht sich der Bauch aber auch und man muss auf sein Herz hören», erklärt sie mir und blickt mich wehmütig an. Als ich ihr nicht antworte, streichelt sie meinen Handrücken und fährt fort: «Weisst du, ich war letztens in der gleichen Situation wie du. Ich habe jemanden kennengelernt. Ihr Name ist Anna. Sie geht in die gleiche Klasse wie ich und wir haben bereits einiges zusammen unternommen. An einem Abend kamen wir uns ziemlich nahe…»

«Und dann?», hake ich nach, weil Mira ihre Geschichte unterbrochen hat.

«Ich habe sie nicht geküsst. Am nächsten Tag habe ich es bereut. Aber wir haben uns nochmals getroffen und dann habe ich den Schritt gewagt. Wir sind zwar nicht offiziell ein Paar, aber man muss ja auch nicht alles definieren.»

Bei diesen Worten muss ich lächeln. Vielleicht hat Mira recht und ich stehe mir nur selbst im Weg. Aber ich glaube, darüber muss ich zuerst mehrere Nächte schlafen. Wir löschen das Licht und legen uns hin. Zum Glück ist das Bett gross genug und wir müssen nicht aneinanderkleben. Was mich allerdings bei ihr nicht stören würde. Mira ist mir mittlerweile so sehr ans Herz gewachsen. Ihre Worte hallen in meinem Kopf wider, weswegen ich auch nach einer Stunde noch wach liege. Dann fällt mir schlagartig ein, dass ich vergessen habe das Feuer im Kamin zu löschen. Schnell hüpfe ich aus dem Bett und verlasse leise das Zimmer. Im Haus ist es totenstill. Vermutlich sind alle bereits in ihren Betten. Zu meinem Überraschen ist das Feuer im Kamin aus. Gerade als ich mich wieder umdrehen und die Treppen nach oben steigen möchte, fällt mir eine Gestalt im Sessel auf. Liam betrachtet die noch warme Glut, während er ein Bein über sein anderes gelegt hat.

«Wieso bist du noch wach?», flüstere ich ihm zu, was ihn offensichtlich erschreckt hat. Er zuckt zusammen und sucht mich in der Dunkelheit. Ich trete einen Schritt auf ihn zu und setze mich auf das Sofa neben ihn.

«Ich konnte nicht schlafen», antwortet er mir mit betrübter Stimme und starrt weiterhin auf die gleiche Stelle. Kurz überlege ich, ob ich bleiben oder einfach wieder zurück in mein Zimmer gehen soll.

«Wir sollten darüber reden», murmle ich schliesslich. Nun dreht Liam den Kopf in meine Richtung und betrachtet mich forschend.

«Worüber?» Bei dieser Frage muss ich mit den Augen rollen. Als ob er nicht weiss, worüber ich spreche.

«Über uns», blaffe ich etwas schroffer als geplant. «Darüber, was schon zwei Mal fast geschehen ist.»

«Müssen wir darüber reden?» Bei diesen Worten muss ich schmunzeln. Natürlich möchte er nicht darüber sprechen. Wäre auch komisch, wenn ein Mann sich darum reissen würde, über seine Gefühle zu plaudern. Ich schweige und denke über die Worte von Mira nach. Soll ich auf meinen Bauch oder auf mein Herz hören? Wobei ich mir nicht mal sicher bin, was mein Herz möchte. Vielleicht wäre es doch besser, den Kopf einzusetzen.

«Hör zu», beginnt Liam und wendet sich nun komplett mir zu. «Ich mag dich. Aber ich weiss nicht, ob als Freundin oder als Geliebte. In meinem Kopf herrscht Chaos und ich kann das nicht leiden. Tut mir leid, wenn ich dich in unangenehme Situationen gebracht habe.»

Perplex von seinen Worten bleibt mir der Mund offen. Damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. Aber er spricht mir aus der Seele.

«Mir geht es genauso. Aber…», beginne ich, breche dann aber im Satz ab und blicke unsicher zu Liam. Sein Blick trifft den meinen und erneut steigt in mir diese Hitze auf und mein Atem beschleunigt sich.

«Was aber?», hakt er nach, immer noch in meine Augen starrend.

«Wir könnten es doch herausfinden?», fahre ich fort. Weil Liam nichts dagegen einwendet, erhebe ich mich und gehe auf ihn zu. Er legt sein gebeugtes Bein auf den Boden und blickt mich mit gierigen Augen an. Herrgott, was mach ich hier eigentlich? Aber ich kann meinen Körper nicht zurückhalten. Es ist, als hätte ich die Beherrschung über ihn verloren und setze mich, ohne gross nachzudenken, auf Liams Schoss. Meine Beine ruhen rechts und links von ihm und mein Oberkörper beugt sich, ohne dass ich etwas dagegen tun kann, zu ihm hin. Ich spüre seinen Herzschlag und seine Brust hebt und senkt sich in schnellem Tempo. Mein Körper beginnt zu kribbeln und ein Verlangen flammt in mir auf. Ein Verlangen, welches nur schwer wieder zu zügeln ist. Seine Lippen sind leicht geöffnet und glänzen feucht. Er fährt sich erneut mit der Zunge darüber und beisst sich anschliessend auf die Unterlippe. Himmel, dieser Mann ist wirklich heiss. Plötzlich packt er mich im Nacken und küsst mich leidenschaftlich. Er schmeckt nach süssem Wein und frischem Aftershave. Seine rechte Hand umgreift meine Hüfte und zieht mich näher zu ihm hin. Seine Zunge gräbt sich seinen Weg in meinen Mund und spielt mit meiner mit sanften Bewegungen. Ich vergrabe meine rechte Hand in seinem Haar. Sanft ziehe ich daran, was Liam ein leises Stöhnen hervorlockt. Er lässt den Kopf in den Nacken fallen und übergibt mir das Kommando. Unsere Küsse werden intensiver, fordernder und feuchter. Genauso wie mein Höschen. Wenn wir hier nicht aufhören, landen wir zusammen im Bett und ich weiss nicht, ob ich dafür schon bereit bin. Deswegen ziehe ich langsam meinen Kopf zurück und blicke in das markante Gesicht, welches vor mir liegt. Schweratmend starren wir uns an, überwältigt von dem, was gerade passiert ist.

«Wir können das hier in diesem Raum stehen lassen, wenn du willst», flüstert mir Liam zu und streift mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich stimme seinem Vorschlag nickend zu und erhebe mich nach wenigen Sekunden von seinem Schoss.

«Das klingt gut», flüstere ich ihm lächelnd zu und kehre zurück ins Schlafzimmer. Im Bett lasse ich meine Gedanken nochmals auf das eben geschehene zurückschweifen. Mein Herz rast immer noch und ich kann nicht aufhören zu lächeln. Klarer kann ich nun nicht denken, aber es beschert mir definitiv schöne Träume.