Verdingkinder am Arbeiten

Verdingkinder

“Die Behörde beschliesst - zum Wohl des Kindes?”

Eine illustrierte Kurzfassung der Forschungsarbeit




Vorwort

Dieses Skript ist eine Projektarbeit und entstand im Rahmen des Moduls Konvergent Produzieren des Studiengangs Multimedia Production. Die Verdingung von Kindern ist ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte, welches noch nicht den Weg in Geschichtsbücher der Schule gefunden hat. Im Jahr 2006 wurde die Wiederaufarbeitung dieses Themas gestartet. Das Ergebnis ist eine seitenlange Forschungsarbeit, die das Thema aus juristischer, historischer und soziologischer Sicht beleuchtet. Auf dieser Seite sind die wichtigsten Fakten zusammengefasst und mit einzelnen Biografien ergänzt und illustriert.

Was sind Verdingkinder?

Gemäss Duden sind Verdingkinder «bei Pflegeeltern untergebrachte weibliche Waise». Diese Definition stimmt allerdings nur teilweise. In der Schweiz wurden viele tausende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert fremdplatziert. Diese Fremdunterbringung – auch Verdingung genannt – entsprach der Rechtsordnung und war Mittel zur Armutsbekämpfung. Dabei handelte es sich ursprünglich um Findel-, uneheliche und verwaiste Kinder, später um Kinder aus intakten aber finanziell schwachen Familien.

Für geringes Entgelt wurden die Kinder bei einer Familie untergebracht, bei denen sie zu sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten mussten. Aus zahlreichen Biografien geht hervor, dass die Behörde dabei willkürlich vorging und die Verdingkinder lieblosen Pflegefamilien ausgesetzt wurden.

Da die Fremdplatzierung der Kinder nie auf Bundesebene geregelt wurde, existiert keine einheitliche Definition. Aus dem Föderalismus haben sich verschiedene Begrifflichkeiten gebildet, jedoch existiert der Begriff «Verdingkind» in öffentlichen Dokumenten nicht. Behörden verwendeten bereits damals den Ausdruck «Pflegekind». Die ehemaligen Betroffenen lehnen diesen Ausdruck aber ab, weil er dem Leid, welches sie ertragen mussten, nicht gerecht wird. Demnach spielt der Blickwinkel für die Definition die zentrale Rolle.

Andere Formen von Fremdplatzierung und Kinderarbeit im europäischen Raum sind die «Schwabengänger» und «Spazzacamini», welche in dieser illustrierten Kurzfassung der Forschungsarbeit nicht weiter erwähnt werden.

Duden

Die Motion

Im Januar 2006 reichte die Grossrätin Stucki-Mäder, die weiter unten hinter dem Rednerpult illustriert ist, eine Motion ein. Damit erteilte sie dem Regierungsrat des Kantons Bern den Auftrag, die Geschichte der Verdingkinder aufzuarbeiten. Der Antrieb dafür war ihre Ratskollegin, die bereits 2005 im Rahmen eines Einzelprojekts des Nationalfonds über 270 Interviews mit ehemaligen Verdingkindern führte. Aufgrund der knappen Finanzen war eine Ausweitung des Projekts und Würdigung der Betroffenen nicht möglich. Der Fakt, dass von 270 Interviewten 150 im Kanton Bern verdingt wurden, nahmen sie als Grund ein Zeichen zu setzen. Sie verlangte in ihrer Motion zudem, dass die bereits gemachten Interviews nicht in Archiven verschwinden, sondern das Projekt weiterhin unterstützt wird. 2008 wurde vom Berner Regierungsrat ein Budget von CHF 200’000.- für die wissenschaftliche Untersuchung auf kantonaler Ebene zugesprochen. Das Resultat der Forschungsarbeit ist ein Buch, welches im März 2010 fertiggestellt wurde.

Margrit Stucki

Vor der Debatte im Grossen Rat erhielt Frau Stucki-Mäder einen Brief von Roland Begert, einem ehemaligen Verdingkind. Zitat: «Es geht bei der Verdingkinderstudie nicht um materielle Wiedergutmachung. (....) Ein Staat, der Teile seiner eigenen Geschichte ausblendet, kann nie ein wahrhaft demokratischer sein. Es geht darum, dass das Verdingkinderwesen in einer vorurteilsfreien Geschichtsschreibung für die nächsten Generationen aufgehoben wird. (....) Es geht schlussendlich um Versöhnung und Wahrheit.»

Mit dem Start der Verdingkinderstudie hat der Kanton Bern den ersten Schritt gemacht.

Das Team

Professor Dr. Ueli Mäder (linke Illustration) vom Institut für Soziologie an der Universität Basel leitete die Studie. Unterstützt wurde er von wissenschaftlichen Mitarbeitenden, die reichlich Hintergrundwissen über das Verdingwesen mitbrachten. Bereits in den ersten Sitzungen wurde klar, dass das Budget von CHF 200'000.- das Projekt stark einschränkt.

Das Thema wurde zwar durch Fotoreportagen bereits in den 1940er Jahren und autobiografischen Büchern zum Gegenstand der öffentlichen Debatte, allerdings wurde das Thema nie wissenschaftlich aufgearbeitet. Christian Lüthi (rechte Illustration) ist Präsident des Historischen Vereins des Kantons Bern (HVBE). Der HVBE hat die Forschungsarbeit in seiner Publikationsreihe veröffentlich und damit die Thematik einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht. Dieser Austausch – Erkenntnisse aus der Wissenschaft an geschichtsinteressierten Personen zu bringen – sieht der Verein als seine Hauptaufgabe.

Uli Mäder Christian Lüthi

Das Vorgehen

In interdisziplinärer Herangehensweise wurde die gesetzliche Entwicklung im 20. Jahrhundert auf National- und Kantonsebene skizziert, die Fremdplatzierungspraxis am Beispiel der Gemeinden Lützelflüh und Sumiswald zwischen 1912 und 1978 auf kommunaler Ebene untersucht und Interviews ehemaliger Verdingkinder qualitativ ausgewertet.

Berner Wappen

Um die gesetzliche Entwicklung sowie die Fremdplatzierungspraxis analysieren zu können, arbeitete das Studienteam mit den Armen- und Vormundschaftsbehörden der Gemeinden Lützelflüh und Sumiswald und mit dem Staatsarchiv Bern zusammen. Grundsätzlich wurden drei verschiedene Quellarten ausgewertet: Gesetzestexte, Verwaltungsakten und Aussagen von Zeitzeugen. Rechtsquellen wurden aus historischer Sicht analysiert, Zeitzeugenaussagen aus soziologischer. Bei der Auswertung der kommunalen Behördenprotokolle sind die Kontrollmechanismen - bei den Interviews die Bewältigungsstrategien von besonderem Interesse.

Archiv

Die damalige Zeit

Folgende Grafiken zeigen den demografischen Wandel in der Schweiz. Die erste Grafik zeigt ein kontinuierliches Wachstum der Schweizer Bevölkerung. Die zweite Grafik zeigt auf, dass im Jahr 1900 wesentlich mehr Kinder im Verhältnis zu Erwachsenen lebten.

Bevölkerung Diagramm



Diagramm Altersaufbau

Aus dem echten Leben

Hugo Zingg war ein ehemaliger Verdingbub und ist Mitglied des Vereins Netzwerk-verdingt. Geboren wurde er 1936 in der Stadt Bern als Sohn einer Arbeiterfamilie. Bereits vor Schuleintritt wurde er in ein Kinderheim gebracht. Während der Kriegszeit, im Alter von ungefähr sieben Jahren wurde er ins bernische Gürbetal zu einer Bauernfamilie verdingt. Für Arbeiten jeglicher Art wurde er sklavenhaft eingespannt. Psychische Demütigungen, kaum zu Essen und wenig Schlafen zeichneten sein Leben. In der Schule war er zu müde, um den Stoff aufzunehmen, wenn er denn überhaupt in der Schule war. Von den zig verpassten Schullektionen ist allerdings nichts in den Zeugnissen zu lesen. Dafür wurde an Weihnachten mit reichlich Geschenken für die Lehrerschaft gesorgt. Besonders die Bäuerin vergriff sich mehrmals an dem jungen Hugo und verprügelte ihn mit dem Lederriemen. Als er ins Teenageralter kam, übergab sie die Aufgabe des Prügelns ihrem Mann. Dieser aber meinte es gut mit ihm. Zusammen spielten Sie die Prozedur im Stall nach, indem er auf irgendetwas einschlug und Hugo laute Schreie vortäuschte. Das blieb ein Geheimnis zwischen den beiden, welches die Bäuerin nie erfuhr. Erst durch den Suizid des alkoholkranken Knechts, der auf demselben Hof arbeitete, wurden die Amtsstellen auf die unzumutbaren Zustände aufmerksam. Hugos Schulzeit war damals schon fast zu Ende. Über seinen Kopf hinweg wurde entschieden, dass er eine Lehre als Spengler anzutreten hat. Seine Freude auf einen Neuanfang wurde schnell ernüchtert: Zwar waren es andere Menschen und eine andere Arbeit, aber die Ausbeutung war dieselbe. Aufgrund der viel verpassten Schulstunden konnte er im Berufsschulunterricht nicht mithalten und musste seine Lehre abbrechen. Es vergingen noch einige Jahre voller leeren Versprechungen und Ausbeutung und Nachteile aufgrund der Verdingung und Bevormundung. Aufwärts ging es für Hugo erst ab seinem 35. Lebensjahr. Erst als er begriff, seine belastende Vorgeschichte aus dem Lebenslauf wegzulassen.


Netzwerk verdingt

Verein netzwerk-verdingt

Im Jahr 2008 wurde in Bern der politisch und konfessionell neutrale Verein netzwerk-verdingt gegründet. Wie es der Name vermuten lässt, ist der Verein internationales Netzwerk, welches die Interessen der ehemaligen Betroffenen gegenüber Institutionen vertritt. Er leistet Öffentlichkeitsaufgaben wie Website, Interview, Lesungen und Interviews mit dem Ziel, die Thematik der Verdingung der aktuellen Gesellschaft zu vermitteln. Ein wichtiges Mittel dafür ist der Newsletter, der monatlich erscheint. Vor einigen Jahren hat der Verein angefangen eine breite Fachbibliothek anzulegen. Die ersten Früchte sind schon zu sehen: Die Bibliothek umfasst heute schon mehr als 900 Werke in vier verschiedenen Sprachen. Eine Spende zum zehnjährigen Jubiläum ermöglichte es dem Verein eine Mediathek anzuschaffen, die aus über 150 DVDs besteht. Netzwerk-verdingt engangierte sich aktiv für eine finanzielle Wiedergutmachtung durch den Bund. Dabei forderte der Verein ein Kompetenzzentrum, eine Dokumentationsstelle sowie einen erleichterten Aktenzugang zu persönlichen Dossiers von Opfern. Zudem wurde eine wissenschaftliche Forschungsstudie über die Sozialgeschichte der Schweiz hinsichtlich diesem Thema verlangt.

Guido-Fluri-Stiftung

Guido Fluri

Guido Fluri, ein Schweizer Unternehmer und Gründer diverser Stiftungen, war selbst ein Verdingkind. Er setzt sich für das Wohl von Kindern ein, indem er eine Stiftung dem Thema «Gewalt an Kindern» widmete und 2014 die «Wiedergutmachungsinitiative» lancierte, in der es um die Aufarbeitung des Verdingkindswesens geht. Im Wesentlichen umfasste die Initiative folgende Punkte:

Auf die eingereichte «Wiedergutmachungsinitiative» antwortete der Bundesrat mit einem Gegenvorschlag zur Vernehmlassung, woraufhin die Guido-Fluri-Stiftung die Initiative zurückzog, allerdings mit einem positiven Ergebnis: Seit 2017 ist ein Bundesgesetz für die Aufarbeitung der fürsorglichen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 in Kraft.

Die Guido-Fluri-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit der Senectute Bern noch ein grosses nationales Selbsthilfeprojekt in Absicht. Dabei geht es um die Betreuung und Pflege ehemaliger Verdingkinder, die heute gegen 80 Jahre alt und pflege- oder in irgendeiner anderen Art hilfsbedürftig sind. Das herausgearbeitete Projekt hat das Ziel, dass Betroffene «selbstbestimmt Altern» können. Dafür sieht das Pilotprojekt sogenannte «Caregiver» vor, die Betroffene zu Hause oder in Institutionen besuchen. Ein besonderes Augenmerk liebt dabei auf der Schulung des Pflege- und Betreuungspersonal in Altersinstitutionen.

Kinderheim als Gedenkstätte

Im Jahr 2011 kauft die Guido-Fluri-Stiftung das ehemalige Kinderheim im solothurnischen Mümliswil. Heute ist es ausgestattet mit einer umfangreichen Ausstellung, die Einblicke in die von der Stiftung geforderte Aufarbeitung gibt. Die Zimmer sollen die damalige Lebensweise widergeben. Die Gedenkstätte ist zum Aufklären und Austausch zwischen den Generationen gedacht und soll ein Zeichen gegen das Vergessen sein. Das Besondere an dem Heim ist, dass der Architekt selbst ein ehemaliges Heimkind war. Das Heim galt als hervorragendes Beispiel für soziales Engagement in der Architektur, da es keine Hierarchien abbilden und dem Wesen von Kindern entsprechen sollte.

"Der Verdingbub" im Kino

Verdingbub im Kino

2011 kam der Film “Der Verdingbub” in die Schweizer Kinos, der die Leidensgeschichte des Waisenbkindes Max erzählt. Die Geschichte spielt sich in den 1950er Jahren im Emmental, Kanton Bern ab. Als Max auf den Bauernhof der Familie Bösiger verdingt wird, scheint für Max sein grösster Wunsch in Erfüllung zu gehen: Weg vom Heim und Teil einer richtigen Familie sein. Schnell entpuppt sich sein Wunsch als Albtraum. Täglich wird er zu sklavenähnlichen Bedingungen zum Arbeiten gezwungen, geschlagen und gedemütigt. Lediglich das Musizieren und die Freunschaft zu seiner Leidensgenossin Berteli geben ihm Hoffnung. Der Film wurde auf Schweizer- und Hochdeutsch vertrieben. Bei der Geschichte handelt es sich um einen Mix aus zahlreichen wahren Biografien. Nach nur neun Wochen erzielte der Film über 200’000 Kinobesucher und gehört dadurch zu einer der erfolgreichsten Schweizer Spielfilme. Kritiker loben den Film besonders, weil die Verdingfamilie nicht diffamiert werden. Die Geschichte zeigt wie die Verdingfamilie durch Not, ständigen Verzicht und soziale Isolation in einen Kreislauf der Gewalt gerät.

Regisseur Markus Imboden

In einem Interview erzählt Markus Imboden, Regisseur des Films, dass er nur positive Rückmeldungen seitens ehemaligen Opfern erhielt, die sich bei ihm bedankten. Mit dem Film wollte er bezwecken, dass Unmenschliches verhindert, Ungerechtigkeit bekämpft und Unrecht bennent wird. Sein Ziel habe er mit diesem Film zu einem Teil erreicht. Allerdings sei die Welt dadurch nicht besser geworden.

Happy End?

Hugo Zingg, ein ehemaliges Verdingkind aus Bern, setzt sich seit zwanzig Jahren für die Aufklärung des Verdingkindswesens ein und hat sich das Ziel gesetzt, dass Thema in den Schulklassen und bis in die Schulbücher zu bringen. Um dieses Ziel zu erreichen hat er sich ein grosses Netzwerk aufgebaut und kennt sich über den aktuellen Stand als Betroffener bestens aus. Er hat sich für ein Videointerview bereit erklärt, um über die aktuelle Situation zu berichten. Aus zeitlichen Gründen wird dieses erst in den Semesterferien aufgezeichnet.

Gerechtigkeit

Quellen

  • Biografie «Seelisch verkrüppelt»
  • Bundesamt für Statistik
  • Duden
  • E-Mail Kontakt mit Markus Imboden
  • Guido-Fluri-Stiftung Website
  • Kurzfassung der Forschungsarbeit
  • Netzwerk verdingt
  • SRF
  • Telefongespräch mit Hugo Zingg



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