Die Utopie und das Leben danach

Mit einem alten VW-Bus durch die Wälder Schwedens zu fahren: Ein Traum, den viele Jugendliche in der Schweiz haben. Die Menschen da sind ja so freundlich. Eigentlich logisch, ist schliesslich ein Sozialstaat. Aber nicht nur freiwillig Reisende zieht es nach Skandinavien. Einst galt Schweden als Utopia der Flüchtlinge. Kein anderes Land in der entwickelten Welt nahm proportional zu seiner Bevölkerung so viele Menschen auf. Aber als es daran lag, die Flüchtlinge in die Gesellschaft zu integrieren, ging vieles schief. Die Migration stellt das Land auf eine Identitätsprobe. Wird sich der Sozialstaat jetzt selbst zum Verhängnis?

«Als letztes Jahr die Flüchtlinge nach Malmö strömten, sah ich die Bilder im Fernsehen. Es kam mir so absurd vor, weil wir in Stockholm noch nichts von der prekären Situation zu spüren bekommen hatten. Trotzdem war ich geschockt. Das passiert in meinem Land. Und weil es hier passiert, betrifft es mich direkt.» Cornelia lacht immer zu, reisst Witze vom ersten Moment an, auch wenn sie dich noch nicht kennt. Aber sobald es um ihr Land und dessen Probleme geht, verschwindet der Hauch Kindlichkeit aus ihrem Gesicht. Sie wird ernst.

Letztes Jahr sind über 162 800 Flüchtlinge über Dänemark nach Schweden gekommen. Und wenn einem Flüchtling Asyl gewährt wurde, standen seine Chancen gut, dass seine Familie nachkommen durfte. Dann verschärfte sich die Lage im letzten Herbst, als so viele Flüchtlinge wie nie zuvor nach Schweden kamen. Und als die Behörden im Winter Schwierigkeiten hatten, die Flüchtlinge unterzubringen – sie mussten die kalten Nächte auf den Strassen Malmös verbringen - wurden Stimmen laut, dass die schwedische Migrationspolitk versagt habe. Kurzum: Das Parlament beschloss, die Grenze zu Dänemark zu schliessen. Rein kommt nur noch, wer eine ID-Karte hat. Bis Ende September waren das 22 330 Flüchtlinge. Jedoch haben rund 5000 davon ihren Asylantrag zurückgezogen: Ein weiteres Indiz dafür, dass die Migranten im Norden nicht das erhoffte Glück finden. Statt einer Multikultur bilden sich in den grossen Städten Einwander-Parallelgesellschaften.

Cornelia wuchs auf einer Insel vor Stockholm auf, in einem der reichen Stadtteile. Sie ist privilegiert. Und sie weiss es. Statt einer Privatschule besucht sie aber ein Gymnasium, das auch Flüchtlinge unterrichtet. «Eines Tages sass ich in der Cafeteria und sah an einem anderen Tisch einen Flüchtling. Er war alleine. Zuerst wollte ich das einfach ignorieren, aber dann sagte ich zu mir selber:

«"Cornelia, du musst jetzt einfach über deinen Schatten springen." Und dann habe ich mich zu ihm gesetzt.»

«Sofort breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht aus. Er war 17, aus Afghanistan und seit zwei Jahren in Schweden. Ich habe einfach nur mit ihm geredet, bei der Verabschiedung meinte er, dass ich seinen Tag verschönert habe. Die Wahrheit? Er meinen auch.»

Zusammen mit Freunden gründete Cornelia «Internationella Föreningen Hersby», eine Vereinigung an ihrem Gymnasium, die Schweden und Flüchtlinge zusammenbringen soll. Sport, Schwedische Traditionen oder Gespräche - sie wolle den Flüchtlingen ihr Schweden näher bringen.

Cornelia ist nicht die einzige, die Handlungsbedarf erkannt hat. In Schweden gibt es auch Apps, die Einheimische und Flüchtlinge zusammenbringt. Um Sprachen zu lernen, sich zu treffen, auszutauschen. In einigen Kaffees sind Getränke gratis, wenn man sich über die App trifft. Ein Überlebenszeichen des Sozialstaats?

Jugendliche sollen aktiver werden.

«Ich denke nicht, dass die Menschen wirklich wütend sind. Man kann nicht wütend auf jemanden sein, weil er Hilfe braucht. Ich denke, der Kern des Problems ist die Angst vor Unbekanntem, eine Wissenslücke. Ich verstehe das. Wenn ich in Stockholm die Metro nehme, habe ich immer ein mulmiges Gefühl. Terroranschläge gehen mir nie ganz aus dem Kopf. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, die Menschen zu integrieren. Damit das nicht passieren kann.»

Die Schweden sind ein akzeptierendes Volk, ein reserviertes, klar, aber ein offenes. Und dennoch: Die Spannung in den Städten ist Katalysator der Angst in der Bevölkerung. In den letzten Jahren hat die rechtspopulistische Partei «Schwedendemokraten» an Wählern gewonnen, ihnen gehören 13% der Wählerstimmen. «Ich glaube, es ist ein stetiger Zyklus. Es herrscht Krieg, danach geht es uns immer besser und besser, bis etwas droht, unseren Wohlstand zu zerstören. Ich denke nicht, dass es zu einem dritten Weltkrieg kommt.» Cornelia sieht Hoffnung in der Globalisierung der Welt. Dieses Mal könnten die Nationen besser zusammen arbeiten. Und sie denkt, dass gerade in Schweden, die Menschen jetzt gebildeter seien und es daher weniger Potential zum Eklat gäbe.

Obwohl Cornelia in vielerlei Hinsicht sehr schwedisch ist, blauäugig ist sie nicht. «Ein Freund von mir aus Syrien lebt in einem Flüchtlingsheim. Und reiste zurück in sein Land, um seine Familie zu besuchen. Ich war enttäuscht, fühlte mich hintergangen. Sein Platz im Heim hätte an jemanden vergeben werden können, der ihn dringender brauchte. Der kein Wirtschaftsflüchtling war. Ich schätze ihn immer noch, aber ich habe eine Barriere aufgebaut, bin nicht mehr so offen zu ihm, wie ich es vorher war.»

Schweden ist nicht das Paradebeispiel für geglückte Integration. Aber mal unter uns europäischen Ländern: Das ist keins von uns. Sollten wir uns jetzt alle sozial engagieren und Gruppen gründen? Wäre ja voll anstrengend. Nein, meint Cornelia, es gehe um die kleinen Sachen. Mit Mitteln zu helfen, die uns allen zur Verfügung stehen. Allem voran: die Kommunikation.

«If you see a refugee today, just say hello. Promise me.»

Cornelia an der Session des Europäischen Jugenparlaments in Laax