Aijan an der Session des Europäischen Jugenparlaments in Laax
«Wahlfaul» das ist eines dieser Schlagwörter, die wie «Stammtischgespräch» fast nur im Zusammenhang mit der Schweizer Politik Verwendung finden. Die weltweit bewunderte Halbdirekte Demokratie scheint entweder nicht oder dann doch zu gut zu funktionieren. Auf jeden Fall wurde Wählen für die Mehrheit der Bevölkerung irgendwo zwischen 1919 und 2016 zur lästigen Pflicht. Auch für die jüngere Generation?
Man kann es nicht genug betonen: Hier in der Schweiz haben wir’s gut. Zu gut, würden die einen sagen. Denn Redefreiheit, Halbdirekte Demokratie und eine starke Wirtschaft, das sollten die idealen Voraussetzungen für politischen Diskurs und Meinungsvielfalt sein – eigentlich. Doch irgendwie – so scheint es zumindest – sind das auch die Voraussetzungen dafür, dass Politik und Abstimmungen an Relevanz verlieren. Gerade bei der jüngeren Generation erfüllt sich diese unheilvolle Gleichung: Nur jeder dritte Schweizer unter 25 Jahren stimmt ab. Doch nicht so Aijan.
Die 18-Jährige füllt ihre Wahlzettel immer gewissenhaft aus, denn sie möchte die Zukunft der Schweiz mitgestalten. Dass sie das kann, sieht sie nicht als Selbstverständlichkeit an.
Dass ihre Altersgenossen ihr Recht, mitzubestimmen, oftmals nicht nutzen, frustriert sie. «Ich versuche meine Freunde zum Wählen zu motivieren», erzählt Aijan, «und sie sagen mir dann, dass sie gewählt hätten.» Das Mädchen – oder besser die junge Frau – fährt sich durch die schwarzen Haare, holt kurz Luft: «Doch ich bin mir nicht immer sicher, ob sie das nur mir zu liebe sagen.» Aijan lächelt leicht, auf eine Art, das man sich nicht sicher ist, ob es nun ein verzeihendes, ein unsicheres oder ein zynisches Lächeln ist. Vielleicht besteht ihr Lächeln aber auch aus einem gutschweizerischen Kompromiss von allen dreien.
Aijan mag Pünktlichkeit und sie mag Schokolade. Vor allem aber liebt sie die Schweiz, das betont sie immer wieder. Sie ist ein aufmerksames Mädchen und hat das wache Auftreten einer guten Schülerin. Nur manchmal wird sie ruhiger. Zum Beispiel wenn sie davon erzählt, wie sie sich in der Schweiz wahrgenommen fühlt: «Man sieht mir an, dass meine Wurzeln nicht in der Schweiz liegen.» Ob sie als Reaktion darauf versucht, schweizerischer zu sein als ein Schweizer? Sie verneint. «Ich verstehe, warum man das denken könnte. Doch ich versuche einfach, das richtige zu tun.»
Und so nimmt Aijan ihre Bürgerpflicht ernst. In ihrer Freizeit engagiert sie sich im Europäischen Jugendparlament und im «Parlement des Jeunes Genevois». Sie hat geholfen, im vergangenen Winter fünf Tonnen Kleider für Flüchtlinge zu sammeln, hilft aber auch beim Organisieren von Partys, an denen man ein Gratisgetränk erhält, wenn man sein Wahlcouvert abgibt oder aber sie macht beim Speed Debating mit, einer Debatierrunde mit Moderator, bei der jeder zu Wort kommen soll.
Sie hofft, dass es ihr durch diese Projekte gelingt, eine aktivere, engagiertere Jugend zu fördern.
Ob die Schweiz besser oder schlechter wird, wenn plötzlich alle Jugendlichen abstimmen, kann Aijan nicht sagen. Es ist eine von vielen Fragen, die sie wohl noch länger beschäftigen werden. Denn noch findet Aijan heraus, was sie genau will und wie es weitergehen soll. Sie sitzt stellvertretend für eine Generation im etwas zu grossen Ledersessel, die zwar gut gebildet und leistungsbereit ist, doch noch nicht so genau weiss, wo sie mit anpacken soll. «Es gibt so viele Dinge, die man verbessern könnte, dass ich manchmal selber nicht weiss, was jetzt gerade am wichtigsten ist.»