In der Schweiz waren die Polen vor allem als eines bekannt: Als Pointe von Witzen, in denen geklaut wird. Bis zu diesem Herbst. Jetzt kennen wir es auch als das Land, in dem gegen Dinge protestiert wird, die hierzulande so akzeptiert wie Bauchnabelpiercings sind. Die Identität des Landes ist irgendwo zwischen nicht und unfassbar. Und seit die nationalkonservative Partei «Recht und Gerechtigkeit» die Regierung stellt, scheint der Zug in die moderne westliche Welt ohne Polen weiterzufahren. Oder?
Die Geschichte seines Landes interessiert Stanisław sehr. Das sei typisch polnisch, sagt er. Nach dem zweiten Weltkrieg war Polen zerstört, vor allem die Hauptstadt Warschau. Im Januar 1945 war über drei Viertel der Stadt zerstört worden. Stanisław ist ernst, bestimmt. Nur selten kommt ihm ein Lächeln über die Lippen. Aber dann ist es echt.
Die Polen haben wenig zu lachen. Das liest, hört und sieht man in den Medienberichten. Seit November 2015 ist die Partei «Recht und Gerechtigkeit» führend. Eine weitere europäische rechtspopulistische Partei, die in Zeiten der grossen Flüchtlingsströme an Zuwachs gewonnen hat. Der Rechtsrutsch ist aber nicht nur Resultat der neusten Geschehnisse. Mit der Revolution 1989 und dem Ende des Kommunismus, kam der Kapitalismus. Und mit ihm der schnelle Wachstum: Warschau ist überbaut mit neuen Komplexen. Auf der Strecke blieben die lokalen, die seit dem Ende des Kommunismus auf sich gestellt sind. Hoffnung, und oft einzige Alternative, finden viele von ihnen im Rechtspopulismus.
Auch wenn im modernen Kontext die Identität Polens unklar ist, die katholische Kirche ist ein Teil davon. Christliche Werte spiegeln sich auch in der jüngsten Politik wieder: In der Diskussion zum absoluten Abtreibungsverbot. Bis jetzt waren Abtreibungen in Polen legal, wenn die Frau durch eine Vergewaltigung schwanger wurde, ihr Leben ernsthaft in Gefahr war oder der Fetus drastisch krank war. Das sollte sich mit dem Verbot ändern: Jede Frau sollte jedes Kind zur Welt bringen, damit es getauft, oder falls es totgeboren wird, beerdigt werden kann. Ein heikles Thema in einem Land, dass hin –und hergerissen ist zwischen katholischen Werten und der Entwicklung als modernes, europäisches Land. Auch Stanisław sieht sich im Dilemma: «Ich denke, es wäre besser für das Land gewesen, das Thema unangetastet zu lassen. Es hat, so glaube ich, einen Graben in die Gesellschaft gerissen, der nicht mehr geschlossen werden kann.»
Stanisław an der Session des Europäischen Jugendpatlaments in Laax
Geschlossen scheinen auch die Türen in die westliche Welt. Gegen Abtreibung, gegen die Sterbehilfe, gegen die unabhängige Presse – nichts scheint auf ein modernes, europäisches Land zu deuten. Isoliert sich Polen vom Rest Europas? Schwierig, findet Stanisław und erklärt, dass das Land seine Identität noch finden muss. «Klar, für die westliche Welt mag es nach einem Rückschritt aussehen. Aber für ein Land wie Polen könnte es ein Schritt vorwärts bedeuten.»
Moderner Patriotismus als Produkt der Landesgeschichte? Vielen Polen sei die polnische Geschichte und Tradition sehr wichtig, meint Stanisław.
In zwei Jahren möchte er in seiner Heimatstadt Posen kandidieren, als Stadtrat. Aber nicht alle jungen Polen seien so aktiv. «Wir sind die Kinder der siebziger Jahre Generation, die im Kommunismus aufgewachsen ist.» Deshalb seien sie noch etwas träge. Es sei wichtig, dass junge Polen ins Ausland gehen. Dass sie diskutieren, vielleicht ihre Meinung ändern. «Wir könnten zeigen, was das wahre Gesicht Polens ist. Wir klauen nicht nur Autos und trinken Wodka.» Eins seiner seltenen Lächeln zieht über seine Lippen.
Vielleicht liegt die Identität Polens in beidem: Weltoffenheit und Patriotismus. Auch Stanisław verkörpert beides. Obwohl er es liebt, zu reisen und andere Menschen kennen zu lernen – er wirkt glücklich, wenn er von seinem Land erzählt. Von der Landschaft, den Bergen, dem baltischen Meer. Und von oben betrachtet ist es noch schöner. Oder? «Ja, es ist sogar besser. Weil du die Kälte nicht spürst.» Er ist wieder ernst.